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   Geiss Haejm/ 2000 copyright: baam edition zwiesel 
 
 Über dich wusste ich zuvor nur, dass
  du wegen immer in Nazinähe gestellt wirst, was andere aber vehement
  verneinen. In einem Philosophie-Lehrbuch, das an bayerischen Gymnasien
  verwendet wird, fiel mir auf, dass du, den manche für den
  Größten halten, mit keiner Silbe erwähnt wirst. Doch nachdem
  auch Schopenhauer fehlte und sogar mein Lieblingsdenker, der alte Epikur, war
  mir klar, dass hier akademische Mietmäuler im Auftrag der Herrschenden
  unterwegs sind. Was ist an dir und den beiden genannten Kollegen so
  gefährlich? Dass ihr die Götter nicht achtet? Dass ihr Freigeister
  seid? Also genug Gründe dich zu lesen.  Wenn man dann in deine Gedankenwelt
  eintritt, geht es einem wie dem Pilzesucher im
  Wald, er geht von Fund zu Fund und verliert bald die Orientierung. Auch wenn
  ich gelegentlich Giftpilze vermutete, hatte ich mich an deine Sprache und
  deine Gedanken bereits so gewöhnt, dass ich mir für dich hundert
  Entschuldigungen ausdachte… Irgendwann kann man dich nicht mehr einfach
  weglegen und zu jemandem anderen wechseln.  Ziemlich spät bin ich mit deinen
  späten Schriften in Berührung gekommen. Den „Zarathustra“
  habe ich einige Male gelesen und darin immer wieder neue gedankliche Perlen
  gefunden. Ich bilde mir auch ein mehr als sechs Sätze verstanden zu
  haben, was mich ja in deinen  Augen wohl über die Maßen
  auszeichnet...  Dann habe ich deine "Genealogie der
  Moral" gelesen, die "Götzendämmerung", den "Ecco Homo", den "Antichrist". Was habe ich
  dich verflucht, für manchen Irrsinn - die Begründung dieses
  Urteils soll in dieser Schrift mein Hauptanliegen sein.  Nun wusste ich also, dass dein Zarathustra
  kein Versehen war, sondern du wirklich zeitweise ein hochmütiger,
  menschenfeindlicher Fatzke sein konntest und Massenmörder Hitler durchaus
  zu deinen Kindern gezählt haben könnte, auch wenn Du
  Deutschtümelei und Judenfresserei verabscheut hast. Ich glaube aber
  nicht, dass Hitler dich wirklich gelesen und schon gar nicht verstanden hat,
  denn hätte er das, wäre uns wohl einiges erspart geblieben. Allein
  dein Ersatz fürs Morgengebet atmet tiefe Menschenliebe, schlugst du doch
  vor man solle beim Aufwachen überlegen, wem man an diesem Tag eine
  Freude machen könnte. Oder dein vernichtendes Urteil über den
  Staat, als das Kälteste aller kalten Ungeheuer und ein totalitärer
  Staat schließen sich aus. Andere Sätze aber, wie: "Die
  Schwachen und Missratenen sollen zugrunde gehen: erster Satz unserer
  Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen", darf ein Mann mit
  Verstand nicht schreiben. Auch Deine Verehrung der Junker und der feudalen
  Gesellschaftsordnung, ja sogar des Kastenwesens, sind eigentlich Grund genug,
  Dich überhaupt nicht zu lesen. Kotzübel wird mir aber, wenn du den
  alten Sokrates verspottest, weil er "Pöbel" war und
  hässlich und deine schwachsinnigen Theorien zu den Ursachen von
  Hässlichkeit. Du verspottest Sokrates Dialektik, obwohl du über
  weitere Strecken nichts anderes praktiziert hast. Und noch mal zur
  Hässlichkeit. Ich habe in der Chronik gelesen, wie du einmal Frauen, die
  in deinem Zug saßen, später als Missgeburten beschrieben hast. Das
  ist Arroganz und Menschenverachtung pur. Aber natürlich, Moral bedeutete
  dir nichts, wenn du als Schreibtischtäter, von allem abgehoben,  geiferst. Und doch sollst du ein freundlicher
  Mensch gewesen sein und  höflich auch zu kleinen Leuten.  Doch zu wichtigen Aussagen in deinem Werk. Gleich zu Beginn will ich dir einen deiner
  Hauptwidersprüche um die Ohren hauen: Nur die Not macht wendig hast du
  geschrieben und damit hast du recht. Wie käme der Satte dazu zu lernen,
  zu forschen, zu probieren, zu machen und zu kämpfen? Und weil dies so
  ist, kann dein "Übermensch" nicht aus der Schicht der
  Nichtstuer und Parasiten hervorgehen, sondern nur aus dem
  "Pöbel" - also aus der Menschenschicht, die es nötig hat
  wendig zu sein. Ausgerechnet Du, der die Priester zu Recht Parasiten
  heißt, ist blind wie ein Maulwurf, wenn es um
  das Parasitentum der Herrschenden geht. Du, der Du
  doch sonst alles auf seine Wurzeln zurückverfolgst, solltest eigentlich
  auch wissen, wie der Adel zu seiner Macht gekommen ist und wie degeneriert viele
  seiner nichtsnutzigen Nachfahren geworden sind.  
 Auch dein Begriff „Wille zur
  Macht“, ist sehr missverständlich, denn es meint nichts anderes
  – wenn ich dich verstanden habe - als das Überlebensprinzip der
  Natur, den Lebenswillen, das jede Art leben und überleben will, der von
  Schöngeistern und christlichen Ideologen als Egoismus verleumdet wird.  Deine Ausführungen beim
  "Antichrist" finde ich geistvoll und richtig, alleine die
  Geringschätzung des Mitleids, also dessen, wo sich der Mensch entwicklungsmäßig am weitesten vom
  animalischen Prinzip wegentwickelt hat, mag ich überhaupt nicht
  billigen, eben so wenig die Lobpreisung des Starken und die
  Geringschätzung des Schwachen. Warst du nicht selbst in deinem bewussten
  Leben -  von kurzen Phasen abgesehen - ein Kranker und ein Müssiggänger? Ein Dekadent im Quadrat, von den
  elf geistig behinderten Jahren gar nicht zu reden. Begreife: Deine geistige
  Stärke ist aus deiner Schwäche gewachsen! Wärst du gesund
  gewesen hättest du gelebt und genossen und nicht gegrübelt und dir
  den Schädel zermartert. Überhaupt ist das sowieso die Regel,
  Höchstleistungen aller Art werden nur von Menschen gebracht, die
  irgendein Defizit damit ausgleichen. Du hättest es doch eigentlich
  wissen müssen, nachdem du Lichtenberg (anders als Sokrates) so verehrt
  hast, der alles andere als ein Titan oder Adonis war.  
 
 
 Deinen Wert sehe ich darin, dass sich in
  deinen Werken so viele Denkanstösse finden, dass du die
  Überzeugungen entzaubert hast und viel scheinheilige Moral, dass dein
  Zarathustra keinen Gehorsam fordert, sondern eigenes Denken, und dass Du den
  lebenserhaltenden Egoismus rehabilitiert und dem sozialen, verlogenen Getue
  von Christen und Sozialisten die Larve gelüftet hast, dies ist
  vielleicht  deine größte Tat.  Und doch, du hast es übertrieben:
  Mitmenschlichkeit und die Fähigkeit mit anderen zu fühlen, Mitleid
  und Mitfreude gehört zu den seltensten und gewichtigsten menschlichen
  Eigenschaften. In meinen Augen ist der, der dies kann, ein Ausnahmemensch,
  ein "Übermensch" gar. Wir sollten zusehen, dass diese Dinge
  Schule machen und normal werden, damit wir endlich auch deinen
  unglücklichen Begriff vergessen können. 
 Natürlich weiß
  ich, alter Nietzsche, der ich dich aus Gewohnheit auf einer Wolke verorte,
  dass Dir mein Tonfall und meine Vertraulichkeit schwer missfallen und Du die
  Nase fein wegdrehst, so wie du es schon auf Erden mit allem gemacht hast, was
  Dir nicht gefiel. Aber ich bin halt nur ein Liederschreiber und Ziegenhirte.  |