Weltweite Nahrungsmittel-Krise
UN fordern radikale Reform der Landwirtschaft
Heftige Kritik an industrieller Agrarproduktion / Einsatz von natürlichem
Dünger und traditionellem Saatgut verlangt
Von Judith RauppMünchen - Angesichts der Nahrungsmittelkrise und von
Hungerrevolten in den Entwicklungsländern fordert der Weltagrarrat eine
radikale Reform der globalen Landwirtschaft. Es müssten mehr Lebensmittel
produziert werden und zwar auf umweltschonende Weise, heißt es in einem
Bericht von Weltbank und Vereinten Nationen, der am Dienstag vorgestellt
wurde. Die industrielle Agrarwirtschaft schade den armen Ländern eher.
Die Landwirtschaft habe sich zu stark auf hohe Produktivität und
Monokulturen verlegt, heißt es in dem Bericht, den die Weltbank und
die UN-Welternährungsorganisation (FAO) in Auftrag gegeben hatten.
Ökologische und soziale Aspekte kämen zu kurz, schreiben 400
Wissenschaftler und Entwicklungs-Experten. Diese Agrarpolitik schade gerade
den Entwicklungsländern, weil ihre Umwelt und ihre Lebensformen
zerstört würden. Dies könne soziale Unruhen und ökologische
Katastrophen auslösen. Mit der bisherigen Strategie lasse sich der Hunger
in der Dritten Welt nicht bekämpfen. Das zeige die Zahl von derzeit
850 Millionen unterernährten Menschen. "Jedes Jahr kommen vier Millionen
dazu", sagte Robert Watson, der Direktor des Weltagrarrates, bei der Vorstellung
des Berichts. Das Gremium wird neben der Weltbank von mehreren UN-Organisationen,
der EU-Kommission und acht Industrie-Ländern unterstützt. Deutschland
zählt nicht dazu. Mehr als 50 Staaten haben mit ihrer Unterschrift ihre
Zustimmung zu dem Bericht bekundet.
Die Landwirte müssten nachhaltig mit natürlichem Dünger und
traditionellem Saatgut arbeiten, um Böden und Grundwasser zu schonen,
sagte Watson, der früher den Weltklimarat leitete und jetzt die britische
Regierung in Umweltfragen berät. Es dürften auch nicht so viele
Pestizide verwendet werden. Zudem müsse das traditionelle Wissen der
Bauern in der Dritten Welt ernst genommen werden. Watson kritisierte auch
die Subventionen der Industrie-Länder. Man müsse den Armen mit
fairen Preisen die Chance geben, ihren eigenen Markt aufzubauen. "Wenn wir
jetzt nicht handeln, leben wir bald in einer Welt, die niemandem mehr gefallen
kann", sagte Watson.
Skeptisch zeigt sich der Bericht gegenüber der Gentechnologie und der
Produktion von Biosprit. Kosten und Nutzen müssten hier genau gegeneinander
abgewogen werden. Die Studie warnt zudem vor den Folgen der Patentierung
von Saatgut: Die Entwicklung der Landwirtschaft in armen Ländern könne
behindert werden, da die Bauern von den Großkonzernen abhängig
würden. Für die Produktion von Biosprit würden riesige
Anbauflächen benötigt. Dadurch würden die Lebensmittelpreise
weiter steigen. Sie haben sich innerhalb eines Jahres verdoppelt. Wegen der
kritischen Haltung der Studie zur Gentechnik hatten die Agrarkonzerne die
Mitarbeit am Bericht eingestellt. Auch die USA und China beurteilen die Studie
deshalb kritisch.
Die Vereinigten Staaten und Deutschland wollen allerdings einen Beitrag zur
Lösung der Nahrungsmittelkrise leisten. Washington stellt dem
Welternährungsprogramm der UN zusätzlich 126 Millionen Euro zur
Verfügung, Deutschland stockt sein Budget von 26 Millionen Euro um zehn
Millionen auf, wie am Dienstag bekannt wurde.
Den UN fehlen aufgrund der gestiegenen Preise für Getreide, Mais und
Soja 315 Millionen Euro, um genügend Lebensmittel für die Hungernden
zu kaufen. Solche Soforthilfen lösten das Hungerproblem nicht auf Dauer,
kritisiert Holger Magel, Professor an der Technischen Universität
München, der sich seit Jahren mit der Entwicklung des ländlichen
Raums befasst. Die Entwicklungspolitiker hätten in der Vergangenheit
den Fehler gemacht, sich auf die Slums in den Städten zu konzentrieren.
Dabei hätten sie vergessen, dass es viele Elendsviertel gar nicht
gäbe, wenn die Menschen in ländlichen Gebieten ausreichend Nahrung
hätten. (Wirtschaft)
Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.89, Mittwoch, den 16. April 2008