Unwissen ist Macht
  Deutsche Killermaschinen sind für den Tod von Millionen von Rauchern
  verantwortlich / Von Robert N. Proctor
  
  Wir leben in einer Welt der Unwissenheit. Mike Huckabee etwa, immerhin derzeit
  führender Präsidentschaftskandidat der Republikaner, ist davon
  überzeugt, dass Gott die Welt vor erst 6000 Jahren geschaffen hat. Mit
  solchen Ansichten ist er in den Vereinigten Staaten nicht allein: Zwei Drittel
  aller Republikaner glauben, dass Menschen und Affen keine gemeinsame Vorfahren
  haben; unter ihnen befindet sich auch der noch amtierende
  US-Präsident.
  
  Unwissenheit muss keineswegs von mangelnder Bildung herrühren. In den
  USA etwa werden ungefähr 4400 offizielle Zensoren beschäftigt,
  deren ausschließliche Aufgabe darin besteht, den gewaltigen
  Datenausstoß der nationalen Militärtechnologie-Laboratorien als
  "geheim" einzustufen. Jahr für Jahr werden so Millionen von Druckseiten
  vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen.
  Ein noch direkter tödliches Spiel mit der Unwissenheit spielt die
  Tabakindustrie. Sie verschleiert die Risiken der Rauchens systematisch und
  bewusst: "Unsere Ware ist Zweifel" war eine interne Analyse des Tabakriesen
  Brown & Williamson von 1969 überschrieben. "Unsere Ware ist Zweifel",
  das heißt: Wir können nur weiter Zigaretten verkaufen, wenn wir
  unsere Käufer davon ablenken können, dass Zigaretten töten.
  Seither hat die Tabakindustrie alles daran gesetzt, Zweifel zu säen;
  sie hat Wissenschaft mit Wissenschaft bekämpft, "Experten" dafür
  bezahlt, "alternative Erklärungsmodelle" auszuarbeiten und die Medien
  dazu gebracht, von "zwei Seiten" einer vorgeblichen "Tabak-Kontroverse" zu
  sprechen.
  
  Die Etablierung einer scheinbar offen geführten "Tabak-Kontroverse"
  ist das Grundelement der Unwissenheits-Kampagne der Tabakindustrie. Und dies
  nicht nur in den USA: Die Strategie des systematischen Zweifels ist weltweit
  übernommen worden. Dass etwa der Klimawandel erst so stark verspätet
  im allgemeinen Bewusstsein Einzug gehalten hat, hängt unter anderem
  auch damit zusammen, dass die Ölindustrie sich an Erkenntnissen der
  Tabakriesen orientierte. Oft wurden sogar die gleichen "Experten" dafür
  bezahlt, Zweifel und Konfusion künstlich zu erzeugen.
  Klimaerwärmung und Nikotintod gleichen sich in einem Punkt: Das Schlechte
  von heute wird erst Jahrzehnte später sichtbar werden. Es kann also
  leicht ignoriert werden. Die Industrie verspottet die Tatsache des Massensterbens
  durch Tabak gern als eine vorgestrige Erkenntnis, dabei wird sie in Wahrheit
  erst in der Zukunft wirklich sichtbar werden. Im 20. Jahrhundert sind 100
  Millionen Menschen durch Rauchen gestorben, in diesem Jahrhundert werden
  es zehnmal so viele sein. Die Weltgesundheitsbehörde geht davon aus,
  dass zur Zeit jährlich fünf Millionen Menschen durch Rauchen umkommen;
  bereits in den kommenden Jahrzehnten werden es jährlich etwa zehn Millionen
  sein.
  Diese Zahlen beziffern die größte Gesundheitskatastrophe aller
  Zeiten. In die Höhe getrieben werden sie durch die Strategie der
  Tabakindustrie, sich selbst unsichtbar zu machen. Zigaretten werden zwar
  geraucht, es wird aber niemals darüber gesprochen, wie sie produziert
  werden. Vielleicht wäre die Öffentlichkeit nicht derart einfach
  zu sedieren, wenn mehr darüber gesprochen würde, dass die Herstellung
  von Zigaretten beispielsweise einer der schlimmsten Faktoren von
  Umweltverschmutzung ist.
  
  Zigaretten sind sowohl für weitreichende Abforstungen als auch für
  die Erderwärmung mitverantwortlich. Jährlich werden weltweit etwa
  zwei Prozent aller Waldflächen für Tabakfelder abgeholzt, Millionen
  von Bäumen werden zu Zigarettenfiltern verarbeitet. Allein in den USA
  werden zehn Millionen Kilogramm Pestizide auf Tabakfarmen eingesetzt. Weltweit
  stellen Zigarettenstummel eine der größten Abfallmengen dar. Der
  Kohlendioxidausstoß von Zigarettenherstellung und -konsum übertrifft
  den der meisten anderen Industrien. Zigaretten sind weltweit die
  größten Verursacher von Bränden, Todesopfern durch Brände
  und ein führender Grund für Arbeitsunfälle. Würden Zigaretten
  vollständig abgeschafft, wäre ein Treibhausgasausstoß vermieden,
  der dem von Benzin kaum nachsteht.
  
  Das Ausmaß der Zigarettenproduktion ist schwer vorstellbar. Weltweit
  werden jährlich etwa sechs Trillionen Zigaretten geraucht, etwa tausend
  pro Mann, Frau und Kind auf der Erde. Zigaretten sind 80 Millimeter lang,
  insgesamt werden also pro Jahr 500 Millionen Kilometer an Zigaretten geraucht
  - was in etwa von der Erde zur Sonne und zurück reichen würde,
  mit ein paar Kurven um den Mars herum. Wer aber produziert diese ganzen
  Zigaretten? Und wie? An diesem Punkt kommen die Deutschen ins
  Spiel.
  
  Die moderne Tabaksherstellung ist ohne Mechanisierung nicht denkbar. Die
  Geschichte der Tabak-Mechanisierung begann im 19. Jahrhundert, als der
  Wollfabrikant James Bonsack in Virginia eine Maschine erfand, die eine beliebig
  lange Zigarette rollen und danach in Stücke schneiden konnte. Die
  Bonsack-Maschine verringerte die Kosten der Tabakherstellung entscheidend
  und erhöhte zugleich die Geschwindigkeit, in der Zigaretten hergestellt
  werden konnten. Während die Manufakturen-Arbeiter in Richmond oder Dresden
  nur vielleicht 1000 Zigaretten am Tag rollen konnten, schossen aus Bonsacks
  Maschine 100 000 heraus - und das ohne jede Ermüdungserscheinung oder
  drohende Streiks.
  
  Aber das war nur der Anfang. Der Ausstoß der Zigarettenmaschinen wuchs
  das gesamte 20. Jahrhundert über. Die vom Londonder Unternehmen Molins
  Co. 1926 entwickelte Maschine "Mark I" produzierte 1000 Zigaretten in der
  Minute, viermal so viel wie die beste Bonsack-Maschine. Die "Mark VIII" von
  1956 verdoppelte dieses Ausstoß bereits, und aus dem "Ypsilon Maker"
  von 1970 schossen bereits 4000 Zigaretten in der Minute. Die besten - und
  tödlichsten - Maschinen aber entwickelten die Deutschen.
  Nach dem Zweiten Weltkrieg lag das deutsche Zigarettenwesen darnieder. Adolf
  Hitler hatte das Teufelskraut zeitlebens verachtet und als die "Rache des
  roten Mannes" bezeichnet, die die Indianer gegen den Schnaps hergetauscht
  hätten. Das von ihm eingerichtete weltweit erste "Institut zur Erforschung
  der Tabakgefahren" an der Universität Jena leistete pflichtbewusst
  erstklassige Forschungsarbeit und wies Tabakkonsum als Hauptfaktor von
  Lungenkrebs nach. An vielen öffentlichen Plätzen und in
  sämtlichen NS-Einrichtungen waren Zigaretten strengstens
  verboten.
  
  Nach dem Krieg aber hatten Zigaretten in Deutschland plötzlich viele
  Freunde. Die amerikanischen Besatzungstruppen trugen zu ihrer Durchsetzung
  bei; auch bildete Tabak eine wesentlichen Teil des Marshallplans: Jeder dritte
  Dollar der Lebensmittelhilfe wurde in Form von Tabak transferiert. Die
  Nationalsozialisten waren gegen Tabak gewesen, Tabakkritiker mussten also
  Nationalsozialisten sein; Zigaretten waren hingegen "Freiheitsfackeln", Symbole
  der neuen Unabhängigkeit.
  
  Wie ein Phönix aus der Asche erstarkte die deutsche Zigarettenindustrie
  wieder. In Hamburg gründete sich die Reemtsma-Gruppe neu, in Ostdeutschland
  wurden neue Zigarettenfabriken in Dresden errichtet. Und der Diplomingenieur
  Dr. Kurt A. Körber begann, Zigarettenmaschinen zu konstruieren und zu
  reparieren. Die Deutschen mochten Filter-Zigaretten; Dr. Körber entwickelte
  ein System, mit dem man Filter schnell und maschinell auf die
  Zigarettenhülsen aufsetzen konnte. 1946 gründete er die Hauni
  Maschinenbau AG, ebenfalls Hamburg, die sich mit der Qualität und
  Präzision ihrer Maschinen schon bald einen ausgezeichneten Ruf erwerben
  konnte.
  
  Heute ist Hauni der weltweit größte Hersteller von Zigarettenmaschinen
  und beliefert Tabakfirmen in aller Welt mit den tödlichsten Maschinen,
  die jemals hergestellt wurden. Die Firma produziert verschiedene Modelle,
  die Krönung ihrer Produktpalette aber ist die Maschine "Protos-M5",
  eine wahrhaftige Killermaschine, die in einer einzigen Acht-Stunden-Schicht
  fünf Millionen Zigaretten ausspuckt. Bei bloß zwei angesetzten
  Schichten am Tag und nur 200 Produktionstagen ergäbe das immer noch
  zwei Milliarden Zigaretten im Jahr.
  
  Was für einen Schaden kann eine solche Menge verursachen? Tabak verursacht
  etwa einen Todesfall pro Million gerauchter Zigaretten. Wenn man die Zahl
  der in einer Gesellschaft gerauchten Zigaretten nimmt und durch eine Million
  teilt, kommt man immer auf die Zahl derer, die zwanzig bis dreißig
  Jahre später tatsächlich daran zugrunde gehen. Der größte
  Anteil stirbt an Herzerkrankungen, etwa ein Drittel an
  Lungenkrebs.
  
  Die "Protos-M5" von Hauni Maschinenbau verursacht also etwa 2000 Tote pro
  Jahr. Natürlich hat eine moderne Zigarettenfabrik viele solcher Maschinen
  in Betrieb, in der Regel Dutzende. Diese Verflechtungen sind auch auf den
  Internetseiten zum großen US-amerikanischen Rechtsstreit mit der
  Tabakindustrie unter www.legacy.library.ucsf.edu einzusehen - man muss dort
  nur "Hauni" eingeben und wird den Rest von selber finden. Oder aber man kann
  die Firmenhomepage von Hauni Maschinenbau aufrufen, auf der damit geprahlt
  wird, dass, wenn es um Zigarettenproduktion gehe, "alles möglich"
  sei.
  
  Hoffentlich ist es das nicht. Alle Menschen müssen sterben. Aber wollen
  wir das wirklich mit Höllenmaschinen wie der "Protos-M5" beschleunigen?
  Francis Bacon lag nur zur Hälfte richtig: Nicht nur Wissen, auch Unwissen
  bedeutet Macht. Aber wenn Unwissen geschaffen wird, dann kann es auch
  zerstört werden.
  Der Autor ist Professor für Wissenschaftsgeschichte an der
  Stanford-Universität. Sein gemeinsam mit Londa Schiebinger herausgegebenes
  Buch "Agnotology: The Making and Unmaking of Ignorance"erscheint im Juni
  2008 bei Stanford University Press.
  
  Deutsch von Florian Kessler
Quelle: Süddeutsche Zeitung