Was bedeutet eigentlich Neoliberalismus?
Der "neue" Liberalismus entstand als Reaktion auf das Versagen der liberalen Wirtschaftspolitik in der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1932. Gegen den internationalen Trend zu einer aktiven und regulierenden Wirtschaftspolitik im Rahmen des umverteilenden Wohlfahrtsstaats (Keynesianismus) suchten die Neoliberalen nach einer neuen Legitimationsgrundlage für den entfesselten Kapitalismus.
In Europa und den USA bildeten sich seitdem verschiedene Schulen neoliberalen Denkens heraus, die mit unterschiedlichen Akzenten am Projekt der Rechtfertigung einer Marktgesellschaft arbeiteten. Im Jahr 1947 schloss sich die selbst ernannte Elite zur neoliberalen Internationale, der Mont Pélerin Society, zusammen, die heute als ein einflussreiches globales Netzwerk wirkt.
Im Kern ist der Neoliberalismus eine modernisierte und radikalisierte Variante des klassischen Wirtschaftsliberalismus. Das Programm des Neoliberalismus beinhaltet allerdings mehr als die umfassende Privatisierung der öffentlichen Daseinsfürsorge, Deregulierung des Arbeitsmarkts und steuerliche Entlastung von Unternehmen und Vermögenden. Es definiert die Marktgesellschaft als Endpunkt menschlicher Geschichte und zielt derart fundamental auf eine "Entthronung der Politik" ab (Hayek).
Entsprechend befindet sich der Neoliberalismus in Frontstellung zu allen Formen echter, partizipativer Demokratie, die das Projekt einer totalen Ökonomisierung der Gesellschaft gefährden könnte. Selbst das Freiheitsversprechen der Neoliberalen reduziert sich auf die Freiheit der Marktteilnahme, und auch der viel gepriesene Individualismus steht durch die Zerstörung des Kollektiven allein für die negative Kategorie eines atomisierten Einzelwesens.
Seit Ende der 1970er-Jahre ist der Neoliberalismus sukzessive zur dominierenden Ideologie eines weltweiten Kapitalismus geworden. Was unter der Diktatur Pinochets in Chile als Experiment begann, von den Regierungen Margret Thatchers in Großbritannien und Ronald Reagans in den USA fortgesetzt wurde, ist heute ein weltweites Programm für alle Industrie- und Entwicklungsländer. Ob neokonservative oder sozialdemokratische Regierungen: Der Neoliberalismus ist hegemonialer Stichwortgeber der politischen Entscheidungsträger. In Deutschland markieren die Auseinandersetzungen um den Arbeitsmarkt und die sozialen Sicherungssysteme den anstehenden Höhepunkt zur Umsetzung des neoliberalen Projekts.
Neoliberalismus bedeutet in der Praxis Destruktion des Gesellschaftlichen. Für die dabei entstehenden Ungleichheiten, Verwerfungen und Spannungen hat er außer der Option eines autoritären Regimes kein taugliches Konzept. In dieser negativen Botschaft liegt aber zugleich die Chance einer emanzipatorischen Gegenbewegung. "
RALF PTAK
Erschienen am 17.5.2004 in der taz