20.01.2007 Trennlinie

Fall Murat Kurnaz

Heuchler im Kanzleramt

Die Akten zum Fall des Bremers offenbaren ein Maß an Scheinheiligkeit, das selbst im Politikbetrieb ungewöhnlich ist: Das Taktieren der alten Regierung in der Causa des Guantanamo-Häftlings ist unentschuldbar.

Ein Kommentar von Peter Blechschmidt SZ

Dass die deutsche Regierung sich im Herbst 2002 geweigert hat, das amerikanische Angebot auf Freilassung des in Guantanamo gefangengehaltenen Bremer Türken Murat Kurnaz anzunehmen, ist seit geraumer Zeit bekannt.

Dass sich Kanzleramt, Auswärtiges Amt und Innenministerium auch im Oktober 2005 noch einig waren, die Wiedereinreise des erwiesenermaßen unschuldigen Kurnaz nach Deutschland zu verhindern, weiß die Öffentlichkeit seit dem gestrigen Freitag.

Der Spitze des Kanzleramts war alles bekannt

Kann man das anfängliche Misstrauen der Sicherheitsbehörden gegen einen jungen Türken noch nachvollziehen, der einen Monat nach den Anschlägen vom 11. September 2001 nach Pakistan reist, um angeblich mehr über seinen islamischen Glauben zu lernen, so gibt es für das spätere Taktieren der Regierung keine Entschuldigung mehr.

Kurnaz war in Guantanamo Häftling Nummer 061. In den Mühlen der deutschen Bürokratie war er nur eine kleine Nummer, ein Vorgang, noch dazu einer, der störte. Dass ihm offensichtlich Unrecht geschah, dass er unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten und gefoltert wurde - all das war bis hinauf in die Spitze des Kanzleramtes bekannt.

Die Akten offenbaren ein Maß an Heuchelei, das selbst im zynischen Politikbetrieb ungewöhnlich ist. Während man nach außen hin so tut, als setze man sich nach Kräften für den Delinquenten ein, macht man sich intern Gedanken, wie man ihn sich vom Leibe halten kann.

Da kommt es etwa sehr gelegen, dass eine Aufenthaltserlaubnis erlischt, wenn man mehr als sechs Monate im Ausland ist. ,,Der Gesetzesbegründung ist nicht zu entnehmen, dass es dabei auf die Tatsache der Freiwilligkeit der Abwesenheit ankäme‘‘, stellen Beamte freudig fest.

Der Koalitionspartner geht auf Distanz

Erst nach dem Amtsantritt von Bundeskanzlerin Angela Merkel änderte sich die Haltung in Berlin. Von denen, die zuvor für den Fall Kurnaz politisch zuständig waren, ist nur noch Frank-Walter Steinmeier (SPD) in einem Spitzenamt. Der Außenminister war bis zum Regierungswechsel Chef des Kanzleramtes und ausweislich der Akten in alle Entscheidungen eingebunden.

Seine moralische Integrität steht zuallererst in Frage, wenngleich auch andere wie der frühere BND-Chef und jetzige Innenstaatssekretär August Hanning nicht aus der Verantwortung entlassen werden dürfen.

Bislang ist Steinmeier eine Erklärung für seine Haltung zu Kurnaz schuldig geblieben. Spätestens bei seiner Zeugenaussage im Untersuchungsausschuss wird er sie geben müssen, und sie muss schon sehr überzeugend ausfallen, damit sein guter Ruf wiederhergestellt ist.

Die bisherige Strategie der SPD im Ausschuss, ihren Minister dadurch zu entlasten, dass sie aus den Akten längst widerlegte Verdachtsmomente gegen Kurnaz hervorkramt, ist plump und untauglich. Der Koalitionspartner Union geht dazu erkennbar auf Distanz. Die SPD sollte sich nicht darauf verlassen, dass die Existenz der großen Koalition eine politische Überlebensgarantie für Steinmeier ist.

(SZ vom 20.1.2007)