Was ist eigentlich Keynesianismus?
Die keynesianische Wirtschaftstheorie erklärt, weshalb Lohnsenkungen keine Arbeitsplätze schaffen: Entweder führen niedrigere Löhne zu Preissenkungen, von denen sich Unternehmen einen höheren Absatz erhoffen - in diesem Fall bleiben der Reallohn und damit die Kostenbelastung jedoch unverändert. Die von einer Lohnsenkung erhoffte Steigerungen von Gewinnen und Investitionen tritt nicht ein. Oder es kommt tatsächlich zu der angestrebten Reallohnsenkung - dann sinkt die in Zeiten von Arbeitslosigkeit ohnedies unzureichende Kaufkraft noch weiter.
Dies ist der entscheidende Punkt: Im Gegensatz zur liberalen Wirtschaftstheorie, die die Arbeitslosigkeit vor allem mit übermäßig hohen Löhnen erklärt, zeigt der Keynesianismus, dass es in kapitalistischen Wirtschaften immer wieder an Kaufkraft fehlt. Und auch wenn sie nur eine geringe Kostenbelastung haben, werden Unternehmen nicht investieren, wenn sie keinen ausreichenden Absatz erwarten können. So entsteht eine paradoxe Situation: Um ihre Gewinne zu erhöhen, drängen Unternehmen auf niedrigere Löhne. Sind sie damit erfolgreich, sind sie mit dem Problem unzureichender Nachfrage konfrontiert - und dadurch letztlich wieder mit niedrigeren Gewinnen.
Um einen negativen Kreislauf aus Lohnsenkungen, Nachfragemangel und rückläufigen Gewinnen zu vermeiden, schlägt die keynesianische Wirtschaftspolitik also eine Ausweitung der staatlichen Nachfrage vor. Wo die Nachfrage privater Haushalte und Unternehmen nicht ausreicht, um die bestehenden Produktionskapazitäten auszulasten und die gesamte angebotene Arbeitskraft zu beschäftigen, soll der Staat seine Ausgaben erhöhen. Um die Finanzierungskosten niedrig zu halten, müsste eine solche Ausgabenpolitik von der Zentralbank mit niedrigen Zinsen, also einer Politik des billigen Geldes flankiert werden.
Theoretisch sind die Gewinne in einer vollbeschäftigten Wirtschaft viel höher als bei hoher Arbeitslosigkeit und Überkapazitäten. Daher stellt sich die Frage, weshalb gerade das Unternehmerlager gegen die keynesianische Wirtschaftspolitik zu Felde zieht. Sind die auch von dieser Seite zu hörenden Klagen über anhaltende Arbeitslosigkeit am Ende gar nicht ernst gemeint? Ohne glaubwürdige Kündigungsdrohung verlören die Unternehmen ihr wichtigstes Instrument zur Disziplinierung abhängig Beschäftigter. Wenn es ausreichend Beschäftigungsmöglichkeiten gibt, können die Beschäftigten leichter höhere Löhne und eine geringere Arbeitsbelastung durchsetzen. Allein der Gedanke daran scheint dem Unternehmertum so unerträglich zu sein, dass sie Arbeitslosigkeit und die entgangenen Gewinne, die damit einhergehen, einer keynesianischen Beschäftigungspolitik vorziehen.
INGO SCHMIDT