Wildes Geschichtsdenken
Das Irak-Kriegsdesaster der Intellektuellen
Seit 1914 hat in den liberalen Öffentlichkeiten kein Krieg mehr so viel Zuspruch gefunden wie die amerikanische Invasion im Irak von 2003. Jenseits offizieller Rechtfertigungen und journalistischer Erörterung fand sich in den westlichen Nationen eine große Zahl von Schriftstellern, Essayisten und Gelehrten, die sich das Anliegen dieses Krieges teils emphatisch zu eigen machten, teils ihn als geringeres Übel und bittere Notwendigkeit guthießen. Der Unterschied zu 1914 ist allerdings, dass die Massen auf den Straßen, jedenfalls in Europa, gegen den Krieg waren, wo sie natürlich auch ihre lauten Wortführer hatten, allerdings eher aus dem gewerkschaftlich-politischen Milieu.
Trotzdem müssen die Motive einer machtvollen intellektuellen Kriegssympathie rückblickend analysiert werden, nicht nur, weil sich die Hoffnungen, die an den Irak-Krieg geknüpft wurden, so desaströs zerschlagen haben. Dabei sollte es um mehr gehen als eine Erfolgskontrolle im immer unsicheren Prognosegeschäft, vielmehr ist nach dem argumentativen Kern der westlichen Kriegszuversicht zu fragen. Erst dann kann endlich jener "Krieg der Ideen" zwischen den westlichen Öffentlichkeiten und der islamischen Welt ernsthaft beginnen, den Essayisten wie Paul Berman seit 2001 gefordert haben.
Hier und da wird er auch schon geführt, wenn auch immer noch als vornehmlich westliches Selbstgespräch, beispielsweise auf der Internetseite www.perlentaucher.de, wo sich seit einigen Wochen eine bemerkenswerte Debatte über Universalismus und Multikulturalismus abspielt, an der unter anderen Ian Buruma, Timothy Garton Ash, Pascal Bruckner und Nedja Kelek teilnahmen. Allerdings berührt diese Diskussion vorrangig ein Problem der inneren Verfassung liberaler Gesellschaften und nicht jene zivilisatorische Auseinandersetzung zwischen dem Westen und der gesamten islamischen Welt, in die der Irak-Krieg uns, ob wir sie wollen oder nicht, gestoßen hat.
Doch vor allem auf diesem Feld sind die Trümmer des Irak-Krieges erst noch zu beseitigen, bevor man halbwegs glaubwürdig weiterstreiten kann. Niemand sollte sich darüber freuen, dass sich Autoren wie Wolf Biermann und György Konrád, Essayisten wie Hans Magnus Enzensberger, Hans-Ulrich Gumbrecht und Karl-Otto Hondrich, "liberale Falken" wie Paul Berman und Michael Ignatieff, selbst besonnene Beobachter wie Ralph Dahrendorf und Herfried Münkler in so vielen Punkten getäuscht haben. Auch muss man etlichen der genannten Autoren, darunter vor allem Konrád und Gumbrecht, zugute halten, dass sie ihre Irrtümer mittlerweile freimütig eingestehen (siehe SZ vom 15.1. 2007).
Aber wer die Artikel der intellektuellen Falken heute nachliest, der wird eine erstaunliche Feststellung machen: Die heute oft gestellte Frage, ob der Irak-Krieg eine gute Idee war, die nur schlecht ausgeführt wurde, oder ob er, wie Jürgen Habermas und Ivan Nagel postulierten, ein Völkerrechtsbruch mit absehbar unsicherem Ausgang war - diese naheliegende Frage trifft die Natur dieser weitverbreiteten Irrtümer gar nicht.
Denn die meisten der Kriegsbefürworter - als Ausnahme ist vor allem Herfried Münkler zu nennen - haben sich mit dem Irak, dem Völkerrecht, den Chancen und Risiken eines Krieges im nahöstlichen Zusammenhang gar nicht befasst. Die überwältigende Masse der Argumente für den Krieg bezog sich auf europäische Erfahrungen der letzten zwei oder drei Generationen. Also schrieb man über Themen auf einer zweiten Ebene wie Pazifismus und Antiamerikanismus, über Appeasement und Antisemitismus, anstatt zur Sache selbst zu sprechen.
Vor allem aber bemühte man großflächige historische Analogien: Der wünschenswerte Sturz Saddams wurde umstandslos mit dem Kampf gegen Hitler parallelisiert, die Demokratisierung des Iraks mit der Demokratisierung Westdeutschlands und Japans nach dem Zweiten Weltkrieg verglichen, und die Chance einer demokratischen Ausstrahlung auf den gesamten Nahen Osten legte man sich zurecht mit dem Ende des Ostblocks und der raschen Etablierung bürgerlicher Demokratien danach. Nur über den heutigen Irak und seine reale innere Lage wusste kaum jemand etwas zu sagen.
Es ist anders gekommen, als solche vorwegnehmende Imagination kommender Erfolge suggerierte. Und hierin liegt eine fast obszöne Anmaßung, die zu scharfer Selbstkritik im Westen Anlass gibt. Da wird ein ganzes Land in unabsehbares Elend gestürzt, und welche Argumente liefern die Begleitmusik? Erinnerungen an unsere eigene Geschichte. Den irakischen Intellektuellen, der darüber in kalte Wut geriete, könnte man verstehen; allerdings darf man unterstellen, dass diesen Iraker heute ganz andere Sorgen bedrängen. Selbstverständlich liegt die Hauptschuld an der Katastrophe bei den politisch-militärischen Akteuren, die mit gefälschten Informationen, unrealistischen Vorgaben und törichter Arroganz ein Abenteuer begannen, das ihnen spektakulär entglitten ist. Trotzdem muss man feststellen: Selten wurde verantwortungsloses Handeln von so viel haltlosem Geschwätz begleitet.
Der Vergleich mit 1914 ist deshalb so bedrückend, weil sich 2003 wieder das Syndrom eines "Literatentums" zeigte, dessen Begriff Max Weber im Ersten Weltkrieg entwickelte: am Phänomen einer Schriftstellerei, die riskante kriegerische Entscheidungen mit kulturkritischen, schöngeistigen, jedenfalls sachfernen und kenntnisfreien Überbauten umwölkte. Auch im Ersten Weltkrieg ging es angeblich um ganz viel, um Kultur und Zivilisation, um Politik und Musik, um Deutschen Geist und westlichen Ungeist und umgekehrt - und um "Kriegsziele" von absehbar unrealistischem, ja wahnhaftem Zuschnitt.
Am Ende stand ein ruinierter, destabilisierter Kontinent, die kulturellen Phantasmen aber waren mit einem Schlag zerstoben, als hätte es sie nie gegeben. Und heute steht das politische Feuilleton vor der demütigenden Erfahrung, dass ein alter Haudegen und Reisereporter wie Peter Scholl-Latour die Verhältnisse im Nahen Osten richtiger beurteilt hat als der schlaueste New Yorker und Pariser Essayismus.
Hinter den vergeblichen Hoffnungen und den Irrtümern von 2003 steht die immerwährende Frage, was man aus der Geschichte lernen kann. Eine mittlerweile klassische These dazu ist, man könne gar nichts mehr aus ihr lernen, denn die neuzeitlich bewegte Geschichte mit ihrer unentwegten Veränderung aller Grundbedingungen des Daseins verhindere die Wiederkehr ähnlicher Konstellationen und Situationen; daher seien alle älteren Klugheitsregeln geschichtlicher Erfahrung überholt. Geschichte habe aufgehört, die Lehrmeisterin des Lebens zu sein, weil sie das gesamte Leben in ihren Strudel gezogen habe.
Diese These hat aber noch nie verhindert, dass immer wieder die gewagtesten Parallelen gezogen werden. Irgendeine Orientierung braucht der historisch denkende Mensch. Merkwürdigerweise aber wurden kleinteilige Weisheiten - beispielsweise der Satz: Es ist klüger, seine Freunde nicht zu verprellen - durchaus gering geschätzt. Dagegen erfreuen sich weiträumige und gewagte Analogien bei Geschichtsdenkern hoher Beliebtheit. So haben die liberalen Öffentlichkeiten seit 1917 den Charakter der Russischen Revolution jahrzehntelang verkehrt eingeschätzt, weil sie sich diesen Umsturz nach dem Muster der Französischen Revolution zurechtlegten. Da war ein wenig "Terreur" durchaus akzeptabel, weil am Ende doch eine bürgerliche Konstitution herauskam und noch später ein Diktator, der für Ordnung sorgte.
Mussolini mit seinen Freischaren stilisierte sich als römischen Cäsaren, der auf Rom marschierte wie Sulla oder Octavian, und später als kultivierten Alleinherrscher wie Augustus, der ein neues Friedensreich heraufführe. Halb Europa, darunter Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud, glaubten ihm. Als bald danach Hitler aufstieg, hatte man sich an den italienischen "Heros der Kultur" schon gewöhnt und sah den "deutschen Mussolini" mit großer Gelassenheit: Was in einer alten Kulturnation wie Italien funktioniert hatte, darauf würde man sich auch in Deutschland einlassen könne.
Das sind die Irrtümer von vorgestern. Heute aber wird jeder zweite Diktator mit Hitler parallelisiert, und jeder Kampf gegen ihn wird so zum ganz sicheren Sieg, denn auch das nationalsozialistische Deutschland wurde am Ende ja überwunden. Den islamischen Fundamentalismus aber legt man sich als "Islamfaschismus" zurecht, und schon wird das Phänomen fasslich. Die entscheidende Differenz, dass die europäischen Faschismen überwiegend religionsfeindlich waren, also mit der kulturellen Überlieferung gebrochen hatten, während der Islamismus sich auf die Autorität einer tausendjährigen religiösen Tradition beruft, wird damit zur Nebensache. Als würde das Problem damit nicht deutlich komplizierter! Max Webers Wort vom "Literatentum" bekommt bei solcher lebfrischen Form wilden Geschichtsdenkens einen ganz neuen Beigeschmack von Wahrheit. In dieser Methodik, sich eine ganze Weltregion nach eigenen Erfahrungen zu kartographieren, liegt eine Hybris, die als erstes verschwinden muss, wenn der Streit der Ideen beginnen soll.
Niederlagen regen bekanntlich das Denken an, und Lehren lassen sich am besten aus Geschichten ziehen, die anders ausgingen, als man es sich ausgerechnet hatte. Eine Lehre dieser jüngsten Geschichte ist: Je großflächiger eine historische Analogie ist, umso sicherer führt sie in die Irre. Eine andere Lehre aber lautet: Einfache Erfahrungssätze können immer noch helfen. Zwei Beispiele: Wenn du ein großes Land besetzt, nimm genügend Truppen mit. Wenn du eine Armee auflöst, behalte die Waffen und gib den Männern Beschäftigung.GUSTAV SEIBT |