Außenansicht
Das Europa der Chefs
Die Iren haben den Vertrag von Lissabon zu Recht gekippt - er hätte
die Völker entmündigt, wenn auch in bester Absicht
Von Burkhard Hirsch
Man sollte aufhören, die Iren als regendurchnässte Schafhirten
zu betrachten, die als einzige Europäer nicht in der Lage waren, die
Segnungen des Vertrags von Lissabon zu begreifen. Die Referenden wären
auch andernorts negativ ausgefallen:Weil man die Zustimmung der Wähler
zu einem Vertrag weder bekommen kann noch bekommen sollte, den auch ein
gutwilliger Leser nicht mehr verstehen kann. Und weil die handelnden Politiker
nicht den mindesten Versuch unternommen haben, den Inhalt des Vertrags
nüchtern darzustellen. Und weil der Vertrag versucht, den Völkern
Europas eine bürokratische Obrigkeit überzustülpen, in
wohlmeinender Entmündigung. Sollten die Iren nun mit dem Rauswurf bedroht
werden, dann wäre diese Erpressung ein Akt der organisierten
Kriminalität "im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts",
als den der Vertrag die EU bezeichnet. Man darf nicht bedroht werden, weil
man auf einem rechtmäßigen Vertrag beharrt.
Wo ein Tabu gebrochen wird, beginnt das Denken. Wer den Vertrag von Lissabon
kritisiert, verstößt in Deutschland gegen jede Political Correctness.
Man tut gut daran, zunächst das Bekenntnis abzulegen, bis zu den Knien
auf dem Boden der europäischen Integration zu stehen, sie für notwendig
zu halten, freiwillig und demokratisch. Ja, sie ist es. Nach der Zürcher
Rede Churchills vom 19. September 1946 hofften wir auf Vereinigte Staaten
von Europa. Die ernüchternde Formel de Gaulles vom "Europa der
Vaterländer" setzte ein anderes Ziel: möglichst enge Zusammenarbeit
ja, Aufgabe der nationalen Identitäten nein.
Damit begann eine europäische Lebenslüge. Man administrierte ein
Europa der Subventionen. Man bildete Organisationen, die staatsähnliche
Funktionen erfüllen, aber weder Bundesstaat noch Staatenbund sein durften
und darum "supranational" genannt wurden. Die nationalen Regierungen übten
in "gouvernementaler Kooperation" direkt und indirekt dominierenden Einfluss
auf die personellen Entscheidungen und die Rechtsetzung dieser Gebilde aus,
zu Lasten der eigenen Parlamente, denen sie immer wieder vorschrieben, was
sie nun gefälligst als europäisches Gemeinschaftsrecht zu vollziehen
hätten. Es entstand ein Europa der Minister- und Ministerialräte,
der "Staats- und Regierungschefs" - was für eine vorkonstitutionelle
Bezeichnung! -, der Beamten mit diplomatischer Immunität, mit eigenen
Finanzen, mit drei Hauptstädten Brüssel, Luxemburg und Straßburg,
mit einem für den Normalbürger nur schwer zugänglichen
Gerichtshof, der auf das möglichst ungestörte Funktionieren der
Verwaltungen bedacht ist und darum die nach unserer Verfassung
unveräußerliche Menschenwürde dem Maßstab der
Verhältnismäßigkeit unterwirft, und mit einem Parlament,
in das sich die entscheidenden nationalen Politiker nicht wählen
ließen. Es blieb ein Parlament mit nationalen Kontingenten, ohne
Wahlkreise, ohne europäische Öffentlichkeit und darum mit
besorgniserregend geringer Wahlbeteiligung. Das Parlament ist eine Hoffnung,
zweifellos. Es bemüht sich. Aber es ändert nichts daran, dass
Entscheidungsmechanismen entstanden sind, die man als Demokrat vielleicht
gerade noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts übergangshalber akzeptiert
hätte. Das Gebilde gebärdet sich als Staat, der nicht bemerkt hat,
dass ihm etwas verlorengegangen ist: das Volk, von dem in einer Demokratie
alle Staatsgewalt ausgehen muss und das in seiner Entscheidung frei ist,
auch wenn sie der Regierung nicht gefällt.
Der Vertrag von Lissabon vollendet diese Entwicklung mit
bewunderungswürdiger Konsequenz. Zwar wird das Parlament an mehr
Entscheidungen beteiligt als bisher. Aber es hat kein Initiativrecht. Wo
es nicht nur konsultiert oder informiert wird, ist es an die Initiative der
Kommission und die Entscheidung des aus nationalen Ministern oder "Chefs"
bestehenden Rates gebunden. In der Außenpolitik wird es wenigstens
"gehört", in der Verteidigungspolitik, zu der militärische
Interventionen und der militärische Einsatz im Inland gehören,
hat es nichts zu sagen. Das Parlament hat auch bei der Wahl des
"Europäischen Präsidenten" nichts zu sagen, bei der Wahl des
Kommissionspräsidenten ist es ausschließlich an die personellen
Vorschläge der Regierungschefs gebunden.
Der Vertrag unterstellt dem europäischen Regime nun auch den Kernbereich
staatlicher Tätigkeit, nämlich Recht und Sicherheit, also die Freiheit.
Die nationalen Parlamente scheiden aus, wenn europäisches Gemeinschaftsrecht
beschlossen wurde. Dabei geht es auch um Strafverfahren, um die pauschale
Anerkennung zivil- und strafrechtlicher Urteile, um polizeiliche
Ermittlungsmethoden, um Haftbefehle und Auslieferungen, also nicht nur um
weltenferne Gesetzgebung, sondern um staatliche Macht. Bei allen Entscheidungen
können die Räte zur Mehrheitsentscheidung übergehen und sich
zu Lasten ihrer nationalen Parlamente neue Befugnisse zuweisen. Die- se
müssen dem nicht zustimmen. Sie können nur innerhalb kurzer Fristen
widersprechen - wenn Bundestag und Bundesrat sich dabei einig sind. Die
Bundesregierung hat nicht einmal einen Vorbehalt erklärt, dass Artikel
1 und die Grundsätze des Artikels 20 des Grundgesetzes unantastbar und
selbst der Verfügungsgewalt des Bundestages von Verfassung wegen entzogen
sind.
Der Vertrag von Lissabon etabliert den Staat einer bürokratischen Obrigkeit.
Er ist die Vollendung einer Politik, die Symbole und Administration exekutiert
hat, wo sie um die Zustimmung der Bürger hätte ringen müssen.
Der Vertrag ist eine Verfassung, zu der bis jetzt aus guten Gründen
die Zustimmung des Souveräns fehlt. Sollte sie in Kraft treten, dann
wird sie in ihrer administrativen Einfalt zu heftigsten Auseinandersetzungen
führen. Wir haben den Bundestag gewählt, damit er in der Bundesrepublik
entscheidet, aber nicht über sie. Er darf und soll uns in ein
europäisches Bündnis führen, aber er darf uns keiner neuen
Verfassung unterwerfen, der wir, das Volk, nicht zugestimmt haben.
Die Weigerung der Iren kann ein Glücksfall sein, wenn die Europäer
sich entschließen würden, eine demokratische Verfassung vorzulegen,
mit den knappen und klaren Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten,
zu denen schon heute eine Zustimmung der Unionsbürger zu erlangen ist.
Man wird um sie ringen müssen, wie bei einer Bundestagswahl um die
Zustimmung zu vielen komplexen Problemen. Das mag langsamer gehen und
mühsamer sein. Na und? Auf Dauer wird Europa ein Europa der Bürger
sein - oder es wird nicht sein.
Burkhard Hirsch war jahrzehntelang einer der führenden Innenpolitiker
der FDP. Von 1994 bis 1998 war er Vizepräsident des Bundestags.Foto:
dpa
Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.161, Samstag, den 12. Juli 2008