Vom Leben der Echraner
Vorwort zur Überarbeitung 2001
Vorwort zur Überarbeitung 1993
Vorwort zur ersten Veröffentlichung von 1987
Der Wanderer erzählt
Echranische Weltsicht
Von der Religion
Lebenskunst
Von der Natur des Menschen
Über unsere Kinder
Über Erziehung und Lernen
Über das Zusammenleben
Über Partnerschaft und Sexualität
Vom Sterben
Über echranische Demokratie
Rechtsprechung
Von unserer Freiheit
Über die Arbeit
Vom Landbau
Über Gesundheit
Von der Ernährung
Von der Kleidung
Vom Wohnen
Von echranischer Technik
Fragen zum echranischen Leben
Nachwort
Letzte Hand an eine Schrift zu legen, heißt nach
Lichtenberg, sie ins Feuer zu werfen. Nun, soweit bin ich noch nicht mit meinen
Echranern, doch einiger Idealismus der ersten Entwürfe ist mir schon abhanden
gekommen. Vor allem hinsichtlich der Lehren, die ich aus der Tierwelt zu
erlangen hoffte. Mittlerweile habe ich jahrelange praktische Erfahrungen mit
Hühnern, Gänsen, Hunden, Katzen, Schafen, Ziegen und Pferden und ich habe bei
ihnen dieselben Unzulänglichkeiten gefunden wie bei uns Menschen: Gier und
Streben nach Vormacht und Überlegenheit, Faulheit und absolute Unfähigkeit zu
Rücksichtnahme. Daneben auch das Ausstoßen und Quälen von Schwächeren und
Fremden, der Reiz des fremden Futtertroges, das Abkoten in der fremden
Stallecke, die Unfähigkeit mit einem Überangebot von Futter umgehen zu können,
das Fehlen jeglicher Vorausplanung und Verantwortung. Dies lässt nur den
Schluss zu, dass das beklagte menschliche Verhalten das natürliche ist und das
altruistische und uneigennützige, alles was wir gerne als „edel“ bezeichnen,
das unnatürliche, das künstliche, das man im Tierreich nirgendwo findet, es sei
denn während der Brutpflege.
Auch unser oft beklagtes Herdentum hat die tiefsten
Wurzeln, denn keine größere Angst gibt es, als die allein sein zu müssen,
ausgestossen zu sein, nicht anerkannt zu werden, keinen Platz zu haben im
sozialen Gefüge. Verlassenheitsängste sind das elementarste, nichts kann uns
mehr vernichten. Um nicht allein sein zu müssen nehmen Tiere beinah alles auf
sich. Nur um bei ihresgleichen sein zu dürfen, lassen sie sich beißen, stoßen,
picken und treten.
Bei den Tieren lassen sich also nur schwerlich die
erhofften Schaltmuster ablesen, sondern nur solche, die unseren Animalismus
bestätigen. Da sich das beklagte Verhalten aber im Laufe der
Entwicklungsgeschichte bewährt hat, da es bei Erfolglosigkeit zum Aussterben
geführt hätte, sollten wir uns fragen, wie weit wir uns davon überhaupt
entfernen dürfen. Doch das Überleben der Art ist bei Theisten, Moralisten und
humanen Träumern heute kein Thema. Alleine das Menschengemachte, einfältig und
kompliziert, meistens beides zugleich, hat für sie Gewicht. Sie nennen die
Tiere dumm und übersehen, dass sie damit die Natur dumm nennen, was ja ziemlich
lächerlich ist.
Wir Menschen der Industriekultur sind aus Gedankenlosigkeit
und ständigem Habenwollen dabei, die Lebensgrundlagen unserer Gattung, ja,
vielleicht die allen Lebens zu zerstören. Unser Wirtschaften und die
Erzeugnisse daraus haben sich verselbständigt, wir haben nicht mehr sie im
Griff, sondern sie uns. Selbst wenn der unwahrscheinliche Fall eintreten
sollte, dass die Menschen weltweit ihr Wirtschaften den natürlichen
Kreisläufen anpassten, werden die zeitverzögert einsetzenden Folgen der
Vergiftung von Luft, Wasser und Erde auszuhalten sein. Und doch sollten wir die
Chance, die wir vielleicht noch haben, nutzen. Vielleicht schafft es die Natur
auf irgendeine Weise - wie schon so oft - die Folgen unserer Unmäßigkeit zu
kompensieren. Doch wie sollen wir es anders machen? Wie muss eine Zivilisation
aussehen, die menschenwürdig und naturverträglich wirtschaftet? Welche
ethischen Grundlagen muss sie haben? Seit über zwanzig Jahren dreht sich mein
Denken um dieses Problem, träume ich von einer „Arche“, die uns nicht nur
retten, sondern auch zufriedener machen kann. Nebenbei - der Begriff „Echra“
ist nur eine Umkehrung des Wortes „Arche“, eine Wortspielerei, nicht mehr. Auf
meinem persönlichen Weg „nach Echra“ habe ich mich unzählige Male verirrt,
immer wieder aber auch wunderbare Entdeckungen gemacht, die wichtigste: Ein
vernünftiges Leben hat nichts mit Entbehrung zu tun und nichts mit mangelnder
Lebensfreude. Ein „echranisches Leben“ schenkt einem sogar ein mehr an
Lebensqualität, ich spreche hier aus eigener Erfahrung. Dies ist es auch, was
mich hoffen lässt. Hätte ich Entbehrung und Askese anzubieten, würde ich längst
meine letzte Hoffnung begraben, denn hiervon mag keiner etwas hören. Ich habe
aber „lustvolle Mäßigkeit“ im Angebot und die Tatsache, dass sich für Glimmer
und Warenramsch echte Lebensfreude eintauschen lässt.
Nun ist diese Erkenntnis nicht neu. Als Autodidakt
in Sachen Lebenskunst stieß ich kürzlich auf den Griechen Epikur, der schon vor
2400 Jahren predigte: Es ist nicht möglich lustvoll zu leben, ohne vernunftgemäß,
schön und gerecht zu leben!
Doch haben wir noch die Zeit, damit dies alle sechs
Milliarden Menschen begreifen? Dass sie sich der religiösen, wirtschaftlichen
und technischen Ketten entledigen, über ihre Irrlehren lachen lernen? Ihre
Unwissenheit, ihre Technikgläubigkeit, ihren Nationalismus, ihre Hortsucht und
ihren Fatalismus überwinden, ja, dass sie dies alles überhaupt wollen?
Ein Funke kann zwar ein Feuer entfachen, wenn eine
Reihe von begünstigenden Umständen zusammentreffen. Doch es scheint, eher
brennt alles andere, bevor sich die Völker für eine vernünftige Mäßigkeit
entzünden. Verstrickt in einen Alltag mit hundert Problemen und
Abhängigkeiten, benebelt von Illusionen und umflutet von heftigen künstlichen
Reizen, hangeln sie sich von einem Tag zum anderen. Diffuse Gefahren, die
irgendwo in der Zukunft lauern, interessieren sie einfach nicht. Menschen
scheinen mit den Folgen ihres Tuns einfach überfordert zu sein.
Und doch habe ich einen Rest Hoffnung. Wenn ich es
selber habe begreifen können, um was es geht, warum sollte es dann nicht auch
jeder andere Mensch begreifen? Schließlich haben wir in unseren Köpfen nicht
nur Verrücktheiten, sondern fühlen in gelegentlichen Sternstunden genau, was
uns gut tut und wie alles eigentlich sein sollte.
Ich habe versucht dieses Fühlen in Worte zu fassen,
was natürlich ein heilloses Unterfangen ist. Deswegen sollte man alles auch
nicht zu wörtlich nehmen und lieber nach eigenen Gefühlen forschen. Alleine
dies, wenn meine Schrift anregen könnte, wäre mehr, als ich zu hoffen wage.
Falls meine Überlegungen ernst genommen werden
sollten, was wenig wahrscheinlich ist, werden haufenweise Kritiker allen
Couleurs auftauchen. Neben solchen, die ihre wirtschaftlichen Interessen
bedroht sehen, werden es aber auch solche sein, die es als idealistisches Geschreibsel
abtun, weil die Hoffnung auf ein kollektives Vernünftigwerden im echranischen
Maße wegen struktureller Mängel der menschlichen Art unrealistisch ist, dass
es immer nur einzelne „Weise“ waren, die es schafften, Teile ihres Lebens
einigermaßen vernünftig zu verbringen. Nun, nach zwanzigjähriger Praxis als
Pädagoge und Leiter von sozialen Einrichtungen brauche ich diese Belehrung
nicht, der Mühlstein aus leidvollen Erfahrungen im Umgang mit Menschen an
meinem Halse ist schwer genug. Und doch brachte das Zusammenleben mit etwa 4000
Jugendlichen auch genug „echranisches“ an den Tag, noch mehr aber „potentiell
echranisches“. Ich glaube nach wie vor an uns und sehe unsere
Unzulänglichkeiten nur als Spiegelbild der Unzulänglichkeiten der
Gegebenheiten, in denen wir leben.
Wer nach Echra will, braucht keine Berge von süßem
Brei durchbeißen, ebenso wenig findet er das Land vor oder hinter Weihnachten.
Echra ist ein Utopia, aber keines, bei dem die Menschen
der Zukunft durch die Luft schweben, auf Raumstationen picknicken oder unter
Wasser in Acrylblasen flanieren und auch kein Schlaraffenland, in dem einem die
gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Echra ist dagegen eine ganz bescheidene
Sache. Es ist ein Land in dem die Menschen friedlich zusammenleben und auf jene
Dinge verzichten, die von der Natur auf Dauer nicht verkraftet werden können.
Echra ist aber kein Hirngespinst. Echranische Teilchen
findet man überall, sogar zwischen kalten Häuserschluchten, inmitten
Maschinengeratter und himmelschreiendem Unrecht. Echranisches findet man in
jeder Pflanze, jedem Tier, ja eigentlich in allem, was unsere verrückte
Zivilisation noch nicht zerstört hat.
Echra spiegelt sich in der Freude und
Unbefangenheit der kleinen Kinder, die noch nicht verdorben, blind und
abgestumpft sind. Echranisch geht es zu, wenn sich Menschen lieben, einander
zuhören, gegenseitig achten, miteinander ohne Berechnung sprechen; wenn sie
sich am Leben erfreuen, wenn sie mit ihren Kindern spielen, wenn sie
musizieren, malen, formen, lesen usw.
Doch Echra ist wie ein Puzzle, dessen Teilchen ein
launischer Wind durcheinander geblasen hat und dessen Vorlage verloren ging.
Ich habe mich dennoch an das Puzzle gewagt, weil
ich immer wieder Bruchstücke für mein eigenes Leben sinnvoll zusammenfügen
konnte. Manche Teilchen habe ich auch bereits verbunden gefunden. In „mein
Echra“ nahm ich sie aber erst nach eigener Prüfung auf.
Viele Puzzleteilchen habe ich trotz angestrengter
Suche nirgends gefunden und durch meine Vorstellungskraft ersetzen müssen,
was naturgemäß die schwächsten Stellen des Buches sein müssen.
Dem flüchtigen Leser mögen die Echraner wie romantische
Hinterwäldler erscheinen und ich, der von ihnen erzählt, wie ein Träumer. Doch
wer ist mehr Realist: Wer so tut, als sei diese Erde unendlich belastbar oder
wer nach einer Lebensweise sucht, die von der Natur ertragen werden kann?
Mir klingen im voraus schon die Ohren vom Gelächter
der Maschinenanbeter, weil die Echraner auf viele technische Dinge verzichten,
die sie für ein gutes Leben entbehrlich halten oder bei denen der Schaden den
Nutzen überwiegt. Dass ein plötzlicher Verzicht auf viele unserer Gerätschaften
völlig unrealistisch ist und auch unsinnig wäre, weiß ich auch. Meine Schrift
will alleine Denkanstösse geben und mitteilen: „Dies und das funktioniert, ich
habs ausprobiert!“ Eine
Gebrauchsanweisung oder eine Ideologie für den Umbau der Industriegesellschaft
liefern, hatte ich niemals im Sinn und das wäre auch vollkommen vermessen. Eine
solche Entwicklung müssen die betroffenen Menschen selber probieren, sukzessive
über einen langen Zeitraum und ohne ideologische Scheuklappen.
Wer das heutige kopflose Treiben mit „Fortschritt“
gleichsetzt, wird im echranischen Leben einen Rückschritt sehen und den Bericht
als nostalgische Träumerei abtun. Doch Echra hat mit der „guten alten Zeit“
(die bekanntlich so gut niemals war) nur wenig zu tun. Die Echraner versuchen
das Bewährte aller Epochen in ihren Kulturentwurf einzubauen. In ihren
„Entwurf“ wohlgemerkt, den es zu entwickeln gilt. Also nochmal: Ein Entwurf,
kein Plan und erst recht keine Ideologie!
1.
Teil
Auf
meinem Weg vom Hochgebirge kam ich an eine Waldwiese, wo ich einen alten Mann
traf, der eine Mauer aus Feldsteinen aufschichtete. In seiner Nähe zupften zwei
Ziegen an Gebüsch. Ich grüßte den Alten und sprach mit ihm über die Wolken am
Himmel, dann über das Land und die Ziegen und - es hatte angefangen zu regnen -
schließlich über den Wert eines dichten Daches und eines trockenen Strohlagers.
„Weiß der Teufel“, sagte der Alte, als wir uns an den Stamm einer mächtigen
Fichte lagerten, deren Krone alle Nässe abhielt, „warum ich mit dir soviel
rede, denn eigentlich habe ich mir das viele Reden schon lange abgewöhnt.
Alleine mit mir rede ich öfter, doch es ist mehr ein lautes Denken. Und es
denkt sich wieder klarer, wenn man ab und zu ausspricht, was man sich so den
ganzen Tag zusammenreimt.“
Die
Erinnerung an seine Selbstgespräche schien den Alten zu amüsieren, denn während
er sprach liefen ihm tiefe Lachfalten von den Augenwinkeln über die wettergegerbten
Wangen. Dabei kraulte er eine Ziege hinter den Hörnern, die sich neben ihm
niedergelegt und wiederzukäuen begonnen hatte. „Sie sind unsere Ernährer“,
sagte er. „Und sie ernähren uns gut, ihre Milch ist köstlich und der Käse
daraus eine Leckerei. Ich habe schon Kühe und Schafe gehalten und bin bei den
Ziegen gelandet, denn sie sind erstaunlich kluge Tiere und ihr eigenwilliger
Charakter gefällt mir. Wer Hunde mag, zu dem passen auch Schafe, wer Katzen
mag, der wird eher mit Ziegen zurechtkommen, denn beide Tierarten lassen sich
kaum erziehen.“
Unsere
Blicke trafen sich. „Ich weiß wenig von Tieren, über Ziegen habe ich noch nie
nachgedacht“, sagte ich. „Doch ich weiß, Tiere sind perfekt, wenn sie von den
Menschen nicht verdorben wurden. Sie sind wie sie sind, man kann ihnen deshalb
nichts verargen.“
„Dazu
bedarf es aber wohl der Weisheit und der Geduld eines Gottes“, lachte der Alte.
„Tiere sind wie sie sind, das ist wohl wahr. Sie denken nicht voraus und wohl
auch nicht zurück, vermutlich denken sie überhaupt nicht. Nach menschlichem
Moralbegriff sind Tiere schlecht, denn sie sind gefrässig und egoistisch. Auch
die menschliche Hand suchen sie nur, wenn sie oft genug Futter drin gefunden
haben.“
Womit
er wohl auch recht hatte, ich aber nicht weniger. Wir schwiegen eine Weile.
Dann sagte der Alte, es fiele ihm auf, dass ich auch schweigen könne. Seine
Erfahrung mit Stadtleuten - und mich hielt er für einen solchen - habe ihm oft
gezeigt, dass diese keine Sprechpausen ertragen können und deswegen ununterbrochen
reden. Dies geschehe wohl aus Höflichkeit oder Unsicherheit, was ihn das
Geschwätz aber nicht weniger leicht ertragen lasse. Er schweige gerne und
schätze es, wenn dies auch ein anderer kann. Ich lächelte und freute mich über
das Lob.
Mittlerweile
hatte es aufgehört zu regnen und die Sonne strahlte wieder von einem tiefblauen
Himmel, die dunkle Wolkenwand war weitergezogen. Wir verließen unseren
Unterstand und der Alte räumte verschiedene Werkzeuge zusammen. „Es ist heute
schon zu spät, um noch weiter zu arbeiten, na ja, und auch zu naß.“
Dann
fragte er mich nach meinem weiteren Weg und ich sagte ihm, dass ich ohne festes
Ziel loszog, um hinter den nächsten Berg zu sehen, und hinter diesem immer neue
Berge gekommen seien, bis ich schließlich an den gegenwärtigen Ort kam.
„Nun
überlege ich in dieses Tal hinabzusteigen, das mir ein recht freundliches zu
sein scheint, denn die Hänge sind weiß von blühenden Obstgehölzen und der
Talgrund scheint saftige Weiden zu haben. Sicher kann ich da meinen Mundvorrat
auffüllen und vielleicht findet sich für mich auch ein Heuschober für die
Nacht.“
Der
Alte freute sich über das, was ich über sein Tal bemerkte und sagte, auch er
freue sich über das Blühen überall und die Bewohner des Tals seien wirklich
recht freundlich, wenn man sie mit den Bewohnern anderer Täler vergleiche. Er
selber sei zwar schon lange nicht mehr aus seinem Tal hinausgekommen, aber
Berichte über die Verrücktheiten und die Bosheiten aus anderen Tälern habe er
genug gehört. Ich hätte recht, wenn ich von den satten Weiden auf den Charakter
der Bewohner schlösse, auch wenn es nicht so sei, dass Fülle immer nur
Freundlichkeit schaffe. Vom Überfluß wisse man, dass er die einen faul und
gleichgültig macht und die anderen gierig und hartherzig. Doch treffe es zu,
dass erst ausreichendes Versorgtsein jene freundliche Gelassenheit schenke, die
man kaum an Orten antrifft, wo grasser Mangel herrscht.
Ich
sagte, dass gute Versorgtheit die Menschen stark mache und nur starke Menschen
sich gut zu sein leisten können. Schwachen Menschen sei nicht zu trauen, was
aber nur eine Feststellung und kein Vorwurf sein soll.
Der
Alte betrachtete mich von der Seite. „Das klingt hart und stimmt so wohl auch
nur, wenn man die hundert Anmerkungen, die man dazu machen muß, alle
mitbedenkt. Doch dazu habe ich jetzt keine Lust.“
Er
klopfte mir auf die Schulter und lud mich ein, mich ihm und seinen Tieren
anzuschließen, denn auch er wolle ins Tal hinuntersteigen.
2
Wir
kamen zeitweise recht flott voran, die Ziegen liefen uns sogar manchmal voraus.
Dann wieder rupften sie beharrlich an Zweigen und Blättern, von denen sie weder
durch Locken noch durch Schimpfen wegzubringen waren. Der Alte zuckte bedauernd
mit den Schultern. „So sind sie nun mal..., sie kommen schon nach.“
Wir
warteten ein wenig, beachteten die Ziegen nicht und sprachen über Einzelheiten
des Tales, die nach und nach zu sehen waren. Dann gingen wir langsam weiter und
die Ziegen kamen hinter uns her.
Im
Talgrund blinkte ein Wasserlauf, der sich in vielen Windungen durch eine
Auenlandschaft wand. „Es ist die Echra“, beantwortete der Alte meine
entsprechende Frage. „Das Echratal!“ murmelte ich überrascht, „ja, gibt es das
denn wirklich!“
Ich
wußte, dass sich im Tal der Echra vor einigen Jahrzehnten technikfeindliche
Utopisten angesiedelt hatten. Diese „Echraner“ hatten mich aber nie
interessiert und Berichte von ihrer Lebensweise gelangweilt, sie waren für mich
einfach nur romantische Spinner.
„Du
scheinst dich darüber nicht besonders zu freuen“, lachte der Alte, als ob er
meine Gedanken hätte lesen können. „Wenn du Angst vor den Echranern hast,
kannst du über den Paß im Osten ins nächste Tal wandern.“
„Warum
sollte ich Angst haben?“ fragte ich.
„Angst
vor Ansteckung! Du wärst nicht der erste, der sich vor der echranischen
Lebensweise fürchtet...“
Der
Alte lachte, ich spürte seinen gutmütigen Spott. Auch ich grinste. „Ach, da bin
ich ganz unbesorgt. Ich bin sicher immun gegen echranische Ideen, denn ich
kenne - auch wenn man es mir nicht gleich ansieht - das Leben und vor allem die
Menschen.“
„Du
hast wohl schlechte Erfahrungen mit den Menschen gemacht?“ fragte mich der
Alte, nun wieder ohne ironischen Unterton.
Ich
winkte ab. „Wir Menschen haben es nicht leicht. Wir sind halb Tier und halb
unser eigenes Kunstprodukt, strecken die Köpfe gern über die Wolken und treten
die Erde, die uns nicht losläßt, nicht weniger mit den Füßen als jeder wilde
Ochse...“
Der
Alte betrachtete mich von der Seite, sagte aber nichts. Nach einer Weile rief
er seine Ziegen, die ein Stück zurückgeblieben waren.
„Das
hört sich an, als wärst du über die Erdbindung der Menschen nicht recht froh.
Bist du deswegen auf die hohen Berge gestiegen, um deinen Kopf über die Wolken
zu strecken?“
„Vielleicht,
ich habe darüber nicht nachgedacht“, antwortete ich. „Aber nun will ich ins
Tal, und wenn darin Echraner leben, so sind sie mir gerade so recht wie
irgendwelche anderen Leute!“
Wir
setzten also unseren Weg fort, der aber im üblichen Sinn des Wortes kein
solcher war, denn wir spazierten quer über Wiesen und Matten, durchschritten
einen urwüchsigen Laubwald voller Vogelgesang und kamen schließlich an einen
Wildbach, dessen Wasser wir ins Tal folgten.
Bald
waren wir von blühenden Gehölz umgeben, die sich wie Blütenstraßen ins Tal
zogen. Noch niemals zuvor hatte ich so viele Hecken und Raine gesehen. Näherte
man sich ihnen, vernahm man ein gewaltiges Summen von Bienen, Hummeln und
Käfern, die sich in dem Blütenmeer tummelten. Lange entdeckte ich keine
Gebäude, bis eine felsige Anhöhe einen Blick über tiefergelegenes Land
ermöglichte. Nun sah ich auch Einzelgehöfte, die, wie Zellkerne dalagen,
umrahmt von den blühenden Gehölzen. Ich sah Gemüse und Weingärten, kleine
Getreidefelder und eine Vielzahl von Obstbäumen.
Ich
äußerte mein Entzücken über die Lieblichkeit der Umgebung und mein Begleiter
freute sich darüber.
„Da
unten“, sagte er nach einer Weile genießendem Schweigen, „da unten an der Echra
- hinter dem Altwasser und den Kopfweiden, man kann den Giebel des Häuschens
erkennen - wohne ich mit meiner Frau!“
Ich
lobte die reizvolle Lage und fragte nach dem nächsten Dorf, in dem ich einen
Laden und ein Gasthof vorzufinden hoffte.
„Nun,
es gibt Dörfer in Echra, doch die sind alle zu weit entfernt, um sie heute noch
erreichen zu können“, sagte der Alte. Läden und Gasthäuser, wie ich sie mir
erwarten würde, gäbe es dort aber auch nicht.
Ich
erschrak ein wenig, denn mein Mundvorrat war beinahe aufgebraucht und so war
ich dringend auf eine Einkaufsmöglichkeit angewiesen. „Keine Läden und keine
Gasthäuser?“ wiederholte ich ungläubig. „Aber irgendwo müssen Sie doch auch
einkaufen?“
Der
Alte lachte. „Bei uns gibt es nichts zu kaufen, es gibt keine Waren und es gibt
auch kein Geld.“
Mein
Gesichtsausdruck war nach dieser Nachricht sicher alles andere als erfreut und
ich spürte alten Widerwillen gegen dieses Echra in mir aufsteigen, doch der
alte Mann hatte seine Auskunft so gleichmütig, selbstverständlich, ohne jede
Spur von Provokation oder Hochmut gegeben, dass ich mich jeder Frage
hinsichtlich der Reichweite der gemachten Feststellung enthielt und nur fragte,
wie sich Wanderer wie ich denn dann versorgen könnten.
„Nun,
auf Tourismus sind wir nicht eingestellt, doch für Besucher hat die Versorgung
aber allemal gereicht. Wohl niemand im Tal wird einem hungrigen Wanderer
Nahrung und Nachtquartier verweigern. Doch weil wir uns nun schon einmal
getroffen haben, kommst du erst einmal mit zu mir nach Hause, was meine Frau
sicher auch recht freuen wird. Und wie du an mir sehen kannst, gibt es bei ihr
immer genug zu essen...!“
Die
freundliche Einladung des Alten konnte ich nicht abschlagen, ich sprach zwar
noch davon, dass ich niemandem zur Last fallen wolle. Doch der Alte sagte, dass
sie mir schon rechtzeitig Bescheid geben würden, sollte dieser Umstand eintreten.
Damit war die Sache ausgeredet und wir setzten unseren Weg gemeinsam fort.
3
Das
Haus des Alten war aus Feldsteinen gemauert, mit Stroh gedeckt und hatte nach
Süden eine überdachte Terrasse, wie man sie von amerikanischen Farmhäusern
kennt. Alles Gebälk war aus geschälten, teilweise krumm gewachsenen
Rundhölzern. Überhaupt hätte man lange erfolglos nach einer geraden Linie oder
einem rechten Winkel suchen können. Dennoch wirkte alles sehr solide und
gediegen.
Im
Inneren befand sich in der Mitte ein gemauerter Kamin, an dem sich die Treppe
ins Obergeschoß anlehnte und von dem aus die Balken der Zwischendecke und der
Dachsparren sternförmig zu den Aussenmauern liefen.
Das
Erdgeschoß bestand aus einem einzigen Raum, der „Lebensraum“, wie der Alte
sagte, er war Wohnstube, Küche, Bad und Werkstatt in einem. Alleine für das
Schlafen gab es im Obergeschoß einige kleine Zimmer.
An der
Nordseite lehnte sich ein Heuschober an. Daneben lag ein hölzerner Stall für
die Ziegen. Diese waren das letzte Stück vorausgelaufen. „Es drängt sie in
ihren Stall“, sagte der Alte. „Warum sie dort so gerne sind, werde ich nie
begreifen. Das Futter, das sie dort finden, ist niemals so frisch, wie
dasjenige im Freien. Das Wasser nie so sauber wie im Bach. Die Einstreu, auch
wenn sie frisch ist, bedeckt ihren Mist. Wie soll man das verstehen?“
Ich
hörte interessiert zu, wußte aber darauf nichts zu antworten, denn von Ziegen
hatte ich keine Ahnung und sie interessierten mich auch nicht besonders.
Die
Frau des Alten hatte freundliche Augen, die aussahen, als seien sie noch
niemals betrogen worden. Ihr Haar war grau, ihr Gesicht sonnenverbrannt und von
feinen Linien gezeichnet, sie war der lebende Beweis dafür, dass einen die
Jahre nicht alt zu machen brauchen, wenn man sich ein kindliches Herz bewahrt.
Die „Frau“, der Alte nannte sie so, die Frau ihn wiederum „Mann“, war über mein
Auftauchen überrascht, doch war zu spüren, dass ihr der Besuch nicht unangenehm
war. Sie lud uns an einen Tisch, der unter einem Kirschbaum in der Nähe des
Hauses stand, trug Milch in irdenen Bechern auf, stellte frische Fladen aus
Kartoffelteig auf den Tisch, dazu eine Kugel Ziegenkäse, reichlich Tomaten und
ein paar Zwiebeln.
Wir
sprachen über das Wetter, dann über das Essen und ich lobte die vorzüglichen
Fladen und den köstlichen Käse. Die Ziegenmilch kostete ich erst ganz
vorsichtig und trank dann schließlich zwei Becher davon, erstaunt, dass sie gar
keinen unangenehmen Eigengeschmack hatte. Die Alten hatten meine anfängliche
Zurückhaltung bemerkt und schmunzelten darüber. Dann erfuhr ich, dass die
verbreitete Meinung über den strengen Geruch von Ziegen und ihrer Milch nur ein
Vorurteil sei. Ziegen hätten kaum Eigengeruch. Nur wenn sie mit Böcken zusammen
gehalten werden, nähmen sie deren starken Geruch an, was sich auch bei der
Milch bemerkbar mache.
Nach
dem Essen spazierten wir ein wenig an der Echra entlang, einem nicht
allzubreiten, behäbigem Flüßchen, das von mächtigen Weiden und Erlen umsäumt
ist. Wieder zurück sagte man mir, ich könne in einer Laube schlafen, einem von
Kletterpflanzen überrankten Gartenhäuschen, einem luftigen, aber wunderbarem
Quartier. Ich liebe das Schlafen bei offenem Fenster, wenn dies nicht gerade
großer Verkehrslärm unmöglich macht. Auf meiner Wanderung hatte ich mich auch
daran gewöhnt, im Freien zu nächtigen, doch Morgentau, Kühle und schlafraubende
Helligkeit waren nicht immer die reine Freude. Die Laube aber war ein
geschützer Raum, in dem man trocken lag und doch im Freien, mit allen Vorzügen
für die Atmung.
Ich
ging an diesem Abend mit der Dämmerung schlafen und wachte, durch das grüne
Rankenwerk vor allzufrühem Licht geschützt, erst am frühen Vormittag auf.
Meine
Gastgeber erwarteten mich auf der Veranda ihres Hauses sitzend. Sie begrüßten
mich freundlich und zeigten mir ihren Brunnen, mit dessen kaltem Wasser ich
mich erfrischte. Beim anschließenden Frühstück - es gab Äpfel, frisch gebackene
Weizenfladen, Butter, Honig und Milch - plauderten wir erst über das Wetter,
die einfache und doch so köstliche Speise und schließlich über den Sinn des
Reisens. Ich bemerkte schließlich, dass Tierhaltung Reisen unmöglich macht und
fragte meine Gegenüber, ob sie dies nicht bedauerten.
Beide
verneinten dies lachend, grad so, als ob ich einen Witz gemacht hätte. Ich
sagte, dass dort, wo ich herkam, Reisen für viele Menschen zum
Erstrebenswertesten gehöre, was das Leben zu bieten hat, ja, viele sogar dafür
bereit sind, das ganze Jahr eine ungeliebte Arbeit zu machen um sich für wenige
Wochen eine Reise leisten zu können.
Das
Gesicht des Alten wurde ernst. „Du bist unser Gast, ich will dich nicht
verärgern. Doch wenn ich dir antworten würde, wie es mir grad auf der Zunge
liegt, würde es dich wohl. Ich will es daher so sagen: Schon in einem
Wassertropfen spiegelt sich die ganze Welt. Und wieviel mehr als ein
Wassertropfen ist diese Aue, dieses Tal, das Leben in ihm. Wir vermissen nichts
und es drängt uns nicht woanders hin. Wen es zum Reisen drängt, wird wohl etwas
vermissen, was er woanders zu finden hofft.“
„Ich
bestreite es nicht, dass Reisen auch immer Suche ist, manchmal auch eine Art
Flucht“, sagte ich. „Doch ist es schlecht, wenn man etwas sucht, wenn man die
Welt kennenlernen will, wenn man dem Alltag entflieht?“
„Dem
Alltag will man nur entfliehen, wenn er einem mißfällt. Die Welt lernt man
nicht kennen, wenn man über sie hinweg eilt und suchen tut nur, wer etwas
vermißt“ entgegnete der Alte freundlich.
„Aber
ist der Mensch nicht von alters her ein Nomade, also einer, dessen Bestimmung
es ist, unterwegs zu sein?“ wandte ich ein.
„Es
war die Notwendigkeit den Futterplätzen zu folgen“, sagte der Alte, „es war die
Not, die den Menschen wendig machte, die Not, die er zu wenden suchte. Die
Ortsfestigkeit kam in der Tat erst später, denn sie setzte viele
Entwicklungsschritte voraus, etwa die Fähigkeit sich winterfeste Bekleidung und
Behausung zu schaffen, seine Nahrung durch Anbau oder Tierhaltung zu erzeugen,
Vorratshaltung und auch einiges an sozialer Entwicklung. Die materielle
Notwendigkeit ist es wohl nicht, die heute Menschen umtreibt. Warum halten sie
es aber dennoch nicht zu Hause aus? Suchen sie vielleicht nach noch besseren
Futterplätzen? Oder suchen sie nach irgendeinem Lebenssinn oder einer
Lebensqualität, die sie daheim entbehren? Oder brauchen sie die äußere
Bewegung, um der Langeweile zu entfliehen, die die meisten Menschen überfällt,
wenn sie haben, was sie an Lebensnotwendigem brauchen?“
Ich
zuckte die Achseln. „Es ist halt so, über die Ursachen zu sinnieren, ist mir
bislang noch nicht in den Sinn gekommen. Es mag vieles so sein, wie sie sagen,
manches aber auch sicher anders“, sagte ich und konnte meinen Unwillen über die
Ausführungen des Alten nicht ganz verbergen. Dieser spürte dies wohl und
vertiefte das Thema auch nicht weiter.
Im
weiteren Verlaufe des Frühstückes kam ein Enkelsohn zu Besuch. Die Alten
stellten ihn mir vor und mich nannten sie einen Wanderer, dessen Namen sie noch
nicht erfragt hatten. Ich nannte meinen Namen und entschuldigte mich für meine
Unhöflichkeit und erfuhr nun auch ihre Namen.
Der
Junge war überrascht einen Fremden anzutreffen und gab sich nicht mit meinem
Namen zufrieden und wollte auch gleich wissen woher ich kam, wohin ich zu gehen
beabsichtigte, wer ich war und vieles andere mehr.
„Ich
komme aus dem Land nördlich der Berge und lebe dort in einer großen Stadt.
Beruflich bin ich Arzt und mit meiner Wanderung erfülle ich mir einen
langgehegten Wunsch“, sagte ich.
Doch
diese Erklärung reichte dem Jungen nicht, er wollte wissen was ein Arzt sei,
was eine Stadt, was ein Land...
Ich
erklärte, ein Arzt sei einer, der kranken Menschen helfe und dafür Geld
erhalte, doch der Bub fragte was „krank“ sei, warum man für helfen etwas bekäme
und was Geld sei...
Die
Fragerei amüsierte die Alten, alleine dem Jungen war die Sache sehr ernst. Mit
großen Kinderaugen stand er vor mir und verlangte Antwort auf seine Fragen...
„War
er noch nie bei einem Arzt?“ fragte ich, „kennt er kein Geld?“
Seine
Großeltern schüttelten lächelnd ihre Köpfe und der Junge schaute zwischen mir
und ihnen hin und her.
„Wenn
es so ist“, sagte ich, nun ebenfalls lächelnd, „dann werde ich es dir zu
erklären suchen. Also...“
Und so
erklärte ich, was ein Arzt war, was Krankheit und was Geld, wobei letzteres dem
Kleinen doch zu merkwürdig vorkam. „Papier, für das man Essen bekommt, Ziegen,
Brot und Häuser? Das möchte ich einmal sehen, dieses Wunderpapier!“
Ich
holte aus meinem Rucksack meine Brieftasche und
daraus einen Geldschein, den ich dem Jungen zeigte. Er gefiel ihm
sichtlich und er wendete ihn hin und her, dass dafür aber jemand eine Ziege
tauschen würde oder ein Haus, schien ihm aber doch unglaubwürdig.
Ich
fragte den Alten, warum es in Echra kein Geld gab und bekam zur Antwort, dass
Geld die Menschen verrückt mache weil durch Geld alles, einschließlich der
Menschen, zu Ware werde.
„Aber
Geld“, wandte ich ein, „ist doch eine praktische Sache, es ist ein universelles
Tauschmittel, ein Vorrat zudem, den man quasi für den Winter sammelt und
aufbewahrt. Geld ist zudem die Voraussetzung für Arbeitsteilung, für Handel und
Fortschritt, ja, es ist vielleicht sogar das Fundament unserer Zivilisation,
unserer Gesellschaft. “
„Es
ist ein Hilfsmittel, das euch zum Zweck wurde“, sagte der Alte. Geld ist euch
Ziel und Peitsche und vielen ist es sogar zum Gott geworden. Wie dieser hat es
nur dann Wert, wenn man an seinen Wert glaubt. Sobald man an ihm zweifelt, ist
es aus mit seiner Bedeutung.“
An
dieser Betrachtung sei schon was dran, räumte ich ein. „Ich eigne mich als
Anwalt der Geldwirtschaft auch nicht recht, da ich es selber eher geringschätze
und nur als notwendiges Übel anerkenne.“
„Es
sind noch immer dieselben Themen“, bemerkte die Alte dazwischen. „Was haben wir
uns darüber nicht schon die Goschen heißgeredet, damals, als es Echra erst in
unseren Köpfen gab..“
Der
Alte lachte. „Man vergißt schnell, dass es hinter den Bergen noch immer so
läuft, wie ehedem.“
„Hinter
den Bergen…“ wiederholte ich lächelnd, „das hört sich an wie das Märchen von
Schneewittchen.“
„Ich
kenne Schneewittchen!“, sagte der Junge und so endete das Gespräch bei den
sieben Zwergen und dem Spiegelein an der Wand...
4
Ich
beschloß ein paar Tage in Echra zu bleiben und mir dieses merkwürdige Land
genauer anzusehen. Doch konnte ich mich einfach selber einladen, zum
Nachtquartier und zum Essen? Woanders wäre ich in ein Gasthaus gegangen, um für
Geld Essen und ein Bett zu bekommen. Aber hier? Der Alte schien mein Problem zu
erraten. Ich könne ruhig so lange bleiben wie ich wollte, sagte er mir, als wir
das Geschirr abräumten. Ich wandte ein, ein solches Angebot nicht ohne
Gegenleistung annehmen zu können. Der Alte schaute mich an und zuckte die
Achseln. „Du kannst dich gerne ein wenig nützlich machen, wenn es dich
beruhigt. Die Heuernte steht vor der Tür und da können wir ein paar starke Arme
mehr ganz gut gebrauchen.“ Die Idee gefiel mir und so blieb ich.
Es
konnte wohl nicht anders sein – der Alte mähte seine Wiese mit der Sense. Sie
sei ein optimales Werkzeug, sagte er, wenn sie scharf sei. Um das zu erreichen
hallten die rhythmischen Schläge von seinem Dengelhammer durch die Aue, mit der
er Stück für Stück die Schneide breitklopfte. „Für meine zwei Ziegen brauche
ich nur einen Morgen Wiese zu mähen, und das schaffe ich in einem halben Tag.
Man braucht weniger Kraft dafür, als du vielleicht vermutest“, sagte der Alte
zu mir. „Du mußt dich entspannen dabei, ganz locker ausholen und eine schmale
Mahd nehmen, die Sense dicht über dem Boden führen, nicht reißen und nicht
hudeln. Du darfst nicht denken: Wann bin ich endlich fertig? Du mußt deine
Bewegung vergessen und deinen Körper wie ein Uhrwerk arbeiten lassen: Spannung
- Entspannung, Ausholen - Heranziehen. Mit deinen Gedanken kannst du in dieser
Zeit alles machen, denken, dichten oder dösen, du kannst den Duft des Grases
genießen oder dem Vogelgesang lauschen, du kannst singen oder schweigen, mähen
wird so zur Meditation. Und wenn du so die Zeit vergißt und die Größe der
Wiese, dann bist du auf einmal fertig, ohne dass du es wirklich gewahr wirst.
Und so nebenbei hast du deinem Körper etwas Gutes getan. Sport und Spiel sind
sicher eine nette Sache, aber eine Bewegung, die auch noch einen praktischen
Sinn erfüllt, das ist etwas ganz anderes.“
Nach
diesem hohen Lied versuchte ich mich natürlich auch in der Sensenkunst, doch
jeder kann sich denken, wie es mir erging. Entweder fuhr die Sensenspitze in
die Erde oder sie glitt ohne viel zu schneiden über das Gras, dann fing ich an
zu reißen, dass mir die Schulter schmerzte und der Stahl fraß sich in
Grasschübel fest.
„Heu
ist ein wunderbares Futter, wenn man es in drei Tagen in den Schober bringt“,
erklärte der Alte, als ich ihm beim Wenden half. „Gleich nach dem Mähen darf es
das Gras ruhig noch einmal abregnen, das schadet nicht. Wenn es aber einige
Tage regnet, dann ist das sehr schlecht. Das Heu wird gelb und braun und ist
nur noch als Einstreu zu gebrauchen. Gutes Heu ist grün und duftet, wie eben
nur Heu duftet. So wird es aber nur, wenn man es durch fleißiges Lockern und
ausreichend Sonne möglichst schnell zum Knistern bringt. Die Ziegen naschen
davon sogar im Sommer gern, auch wenn es frisches Gras gibt.“
Ich
gestand, mir darüber noch nie Gedanken gemacht zu haben. Dies sei dort, wo ich
lebe, auch noch niemals nötig gewesen. „Dass Mähen mit der Sense eine Art
meditativer Sport sein kann, ist mir neu. Ich habe es immer für großes Mühsal
gehalten. Und -“ , ich spielte lachend auf meine mißglückten Mähversuche an,
„für mich ist es das auch.“
Der
Alte widersprach nicht und lachte ebenfalls. „Es ist wie mit allem, anfangs
braucht man viel Kraft dafür und später gehts fast von alleine!“
„Das
echranische Leben scheint voll von solchen „meditativen Arbeiten“ zu sein“,
sagte ich mit etwas schelmischen Unterton. „Außerhalb Echras werden diese
gleichförmigen Arbeiten immer mehr an Maschinen übertragen. Allgemein wird das
für großen Fortschritt gehalten“.
„Das
ist mir wohl bekannt!, antwortete der Alte. „Und was machen die Menschen
stattdessen?“
„Sie
machen häufig Arbeiten, die höher im Kurs stehen. Sie bauen oder bedienen die
Maschinen, kontrollieren und verwalten einander oder geben sich in zunehmenden
Maß ihren Freizeitvergnügen hin“, sagte ich.
„Fernsehen,
elektronische Spiele, Sport, Einkaufen, Reisen, Rauchen, Trinken..., habe ich
etwas wichtiges vergessen?“ Der Alte schmunzelte.
„Wenn
ich dich richtig verstehe ziehst auch du dies dem Mähen, Heu wenden, Holz
hacken, Gemüse hacken, Ziegen hüten usw. vor?“
„Es
gibt auch anderes“, sagte ich, „für einen denkenden und empfindsamen Menschen
gibt es vieles, was man stumpfsinnigen Arbeiten vorziehen kann. Ich nenne hier
natürlich das Lieben, das Essen, Trinken, das Schlafen natürlich, die aktive
oder passive Beschäftigung mit den schönen Künsten, das Reisen, das Lernen und
Lehren, das Forschen, das Helfen, das Lesen, ja, auch das Spielen, den
spielerischen Umgang mit an sich ernsten Arbeiten, aber auch das Faulenzen. Wer
würde nicht lieber in der Sonne sitzen und die Welt betrachten, als sich
schwitzend abzumühen? Aber auch wenn ich des Nichtstuns müde bin, ziehe ich der
Arbeit die spielerische Bewegung vor, etwa das sportliche Üben des Körpers,
aber auch das selbstbestimmte Durchschreiten der Welt: das Gehen. Deshalb bin
ich auch zu Fuß unterwegs und messe mit meinem Schritt den Boden unter mir, ich
glaube es gibt wenig Schöneres...“
Der
Alte schaute mich gedankenversunken an. „Ich gebe dir recht,“ sagte er nach
einer Weile.“ Es gibt wirklich viel Schönes, was man der Arbeit vorziehen kann.
Auch ich liebe alles, was du aufgezählt hast. Und doch hat die Mehrzahl der
Menschen in den Industrieländern mit ihrem Wechsel vom Pflug zum Fließband
einen schlechten Tausch gemacht und ihre Freizeitvergnügen sind eher trauriger
Natur und sind so, wie ich es aufgezählt habe. Doch auch bei euch muß das
Lebenserhaltende hergestellt werden und ich möchte das gerne selber tun, denn ich
mache das die meiste Zeit recht gerne und nebenher genieße ich die
Unabhängigkeit und Freiheit, die ich mit meiner Arbeit gewinne. Für deinen
edlen Zeitvertreib finde ich nebenher immer noch genug Zeit.“
So
redeten wir noch eine Weile über süßes Nichtstun und der Alte zudem über süße
Arbeit und dass das Nötige mit Verstand recht leicht zu schaffen sei und damit
nebenbei Freiheit entstehe und Genugtuung und gutes Gewissen nicht auf Kosten
von irgendjemandem zu leben.
5
„Ihr
Echraner! Ihr lebt wie die Landbevölkerung anderswo vor hundert Jahren. Warum
seid ihr zurückgegangen in der Entwicklung?“ fragte ich den Alten beim
Heuwenden. „In Amerika soll es auch eine Gegend geben, wo die Menschen leben
wie ihre Vorfahren aus der Pionierzeit, ja selbst die Kleidermode ist
entsprechend.“
„Wir
Echraner sind weder Traditionalisten noch Nostalgiker,“ antwortete der
Gefragte, „womit ich aber nichts gegen jene Amerikaner einwenden möchte. Nur
wir Echraner imitieren nicht die gute alte Zeit, die bekanntlich so gut niemals
war. Nach unserem Verständnis haben wir uns nicht zurück entwickelt, sondern
nach vorne. Nur was sich wirklich bewährt hat, daran halten wir uns. Dazu
gehören ganz sicher nicht die alten Hierarchien und Besitzverhältnisse,
ebensowenig die religiösen Illusionen und überkommenen Bräuche und
Beschränktheiten. Wir wollen unser Leben gut leben, wollen möglichst viel davon
selbst bestimmen und wir wollen freundlich mit unseren Nachbarn zusammenleben
und unseren Kindern die Welt so hinterlassen, dass auch sie darin noch gut
leben können. Dazu brauchen wir vergleichsweise wenig. Wenn sich ein
Hilfsmittel für einen Zweck bewährt hat, dann genügt uns dies und wir vergeuden
nicht unsere Zeit damit, immer raffiniertere Gerätschaften für den selben Zweck
zu schaffen.“
„Das
bedeutet, ihr plagt euch mit Arbeiten, die bei uns Maschinen ohne Mühe
verrichten, kann das vernünftig sein?“ wandte ich ein.
„Wer
seine Arbeit maschinenmäßig macht bekommt ein Maschinenherz. Dies ist keine
echranische, sondern eine uralte chinesische Weisheit“, sagte der Alte. „Das
weitgehende Fehlen von Maschinen behütet uns auch davor zu große Fehler zu
machen, denn die Maschinenkraft schafft zwar Beeindruckendes, doch niemals
Lebensfreude oder gar Zufriedenheit.“
Ich
schwieg und obwohl ich fühlte, dass der Alte sicher nicht ganz Unrecht hatte,
konnte ich das Loblied der einfachen körperlichen Arbeiten so nicht nachsingen.
Ich dachte an die Arbeit mit dem Heu in den vergangenen Tagen und, obwohl es
wirklich keine schlimme Arbeit gewesen war, befriedigt hatte sie mich nicht
besonders. Sicher, wenn ich an die Fließbandarbeit in meiner Welt hinter den
Bergen dachte, an die vielen Menschen vor den Bildschirmen, hinter den
Ladentischen, an den Kanonen oder hinterm Steuer, dann schienen mir diese Tätigkeiten
in keiner Weise anziehender zu sein.
6
Da der
Enkelsohn ja offenbar keinen Arzt kannte und wie es schien, auch keine
Krankheiten, was mir sehr sonderbar schien, fragte ich nach.
Natürlich,
sagte der Alte, gibt es auch in Echra Unpässlichkeiten, Verletzungen und auch
ab und zu schwere Krankheiten. Und es gibt auch in jedem Dorf Leute die sich
der Heilkunde ganz besonders verschrieben haben und die den anderen ihr Wissen
weitgeben oder praktisch helfeb, wenn es nötig ist. Nur den Berufsstand „Arzt“,
der nichts anderes macht, als gegen Geld zu heilen, den gibt es in Echra
tatsächlich nicht. Und es ist auch schon vorgekommen, dass Schwerkranke Echra
verlassen haben, um sich außerhalb in einer modernen Klinik behandeln zu
lassen. Mir ist aber kein Fall bekannt, in dem wirklich jemand geholfen worden
wäre. Es kann sein, dass einer damit seinen Tod um eine kleine Zeitspanne
verlängert hat, doch zum Preis lebenslanger Abhängigkeit von Apparaten und
Pillen. Im übrigen kann keiner wissen, wie lange einer mit echranischer
Therapie, also mit Hilfe der Naturheilkunde, noch zu leben gehabt hätte.
Der
Alte spürte meine Skepsis und versuchte mir klarzumachen, dass in Echra die
Lebensbedingungen eben so seien, dass sie Krankheiten nicht fördern. Dann
zählte er die optimalen hygienischen Bedingungen und die gesunde Nahrung auf,
die körperliche Bewegung in sauberer Luft, das Fehlen von Stress und Zwängen
und die günstigen seelischen und sozialen Verhältnisse.
An
dieser Stelle endet der erzählende Teil des Berichts. Doch sollte er als
Einleitung für das Folgende genügen, in
dem der Wanderer die Ausführungen des
Alten notiert hat.
2.
Teil Ausführungen des alten Echraners
Wir Menschen sind Geschöpfe dieser Erde und unser
Leben ist in vielfältiger Weise mit dem übrigen Leben verwoben. Diesem
möglichst wenig zu schaden und seine Vielfalt und sein Gedeihen zu fördern,
liegt daher in unserem ureigensten Interesse. Auch die Voraussetzungen des
Lebens, seine Bausteine, wie Erde, Wasser, Luft, müssen mit Rücksicht behandelt
werden, denn ihre Vergiftung oder gar Zerstörung kann auch uns schädigen.
Wir Menschen haben, wie alle anderen Lebewesen, das
Recht auf Versorgung mit dem Nötigen und Zuträglichen. Unersättliches
Habenwollen darüber hinaus begreifen wir als Geisteskrankheit, die schuld ist
am traurigen Zustand der Welt. In Echra genießt daher rücksichtsvoller
Verbrauch hohes Ansehen, ebenso der Grundsatz der Nachhaltigkeit, also nur
soviel zu verbrauchen, wie wieder nachwächst.
Wir Menschen sind nur eine Lebensform unter vielen,
auch wenn uns die Fähigkeit Hilfsmittel zu gebrauchen zu den mächtigsten aller
Lebewesen gemacht hat. Die beeindruckenden technischen und kulturellen
Leistungen verleiteten uns zur Überheblichkeit und zur Geringschätzung der
übrigen Lebewesen. Irgendwann glaubte unsere Art außer der Natur zu stehen, die
sie zum bloßen Objekt für menschliche Interessen degradierte, zu Nahrung,
Werkzeug und Rohstoff. Diese Weltsicht führte zu unheilvoller Distanz zur Natur
und wurde mit jeder Generation selbstverständlicher. Irgendwann rechtfertigte
man diesen menschenzentrierten Rassismus auch metaphysisch und schuf sich einen
Gott nach dem eigenen Bilde. Doch dieses Weltbild ist so einfältig wie jenes,
das die Erde als Scheibe und als Mittelpunkt der Welt sah, um den Planeten und
Sterne kreisen.
Mit dem Grad an Einsicht in die Komplexität der
Welt und unsere Eingebundenheit darin, wächst die Bescheidenheit. Um als Art
auf lange Sicht überleben zu können, brauchen wir Bedingungen, die nicht
wesentlich von denen abweichen dürfen, in denen sich unsere Evolution vollzogen
hat. Somit müssen wir die Natur vor unserer eigenen Maßlosigkeit und
Beschränktheit schützen.
Wir sollten zudem bedenken, dass wir zwar von der
Natur abhängig sind, diese aber auf Menschen schadlos verzichten kann.
Da in Echra alles erlaubt ist, was keinem anderen
schadet, kann natürlich auch jeder glauben was er will. Priester und Kirchen
gibt es aber keine. Unvorstellbar ist uns die Vergewaltigung von Kindern durch
die Säuglingstaufe, durch religiöse Dressur oder gar die kirchlich angeordnete
Verstümmelungen ihrer Geschlechtsteile...
Ob es Echraner gibt, die an einen Gott im Sinne
eurer Religionen glauben, ist alleine ihre persönliche Angelegenheit. Ich kann
hier nur für mich reden und es erscheint mir müssig darüber zu grübeln, ob es
noch eine metaphysische Welt hinter der wirklichen Welt gibt. Wie es sich auch
verhalten mag, es hat für uns Menschen keine Bedeutung. Gibt es einen Schöpfer,
dann ist auch unser zweifelnder Verstand von ihm und er wird uns kaum dafür
verurteilen, wenn wir ihn gebrauchen. Im Gegenteil, wie könnte ein Gott sich
darüber freuen, wenn seine Geschöpfe ihre Welt, in die er sie gesetzt hat,
verachten, in dem sie nach einer anderen schielen und ihn durch Herunterleiern
von geratschten Gebetsformeln für sich einnehmen wollen? Gäbe es einen Gott,
würde man ihn auf diese Weise lästern und verspotten.
Mit der Sehnsucht nach einem himmlischen und
teuflischen Jenseits verspottet man im Grunde das wertvollste, was es für
lebende Wesen geben kann: das Leben.
Der Jenseitsglaube der Religionen soll die Menschen
auf die Zeit nach ihrem Tode vertrösten und im wirklichen Leben verängstigen
und disziplinieren. Wer das Leben nur als Jammertal begreift und als Prüfung
für das eigentliche Leben danach, nimmt die unmenschliche Wirklichkeit hin,
statt alles dafür zu tun, sie zu verbessern. Der Einfältigste sollte erkennen,
dass Religion, vor allem anderen, ein Werkzeug von Politik und Macht ist.
Götterglauben und Religion ziehen eine lange
blutige Spur durch die menschliche Geschichte. Bis zum heutigen Tag gibt es
nichts gefährlicheres auf dieser Welt als religiösen Fanatismus, denn er
schaltet den Verstand aus und macht die Menschen zu willenlosen Werkzeugen für
rassistische, nationalistische und Machtinteressen aller Art. Die Zahl der
Kriege und das Ausmaß an Unterdrückung und Zerstörung, das im Name der
Religionen verübt wurde, lässt sich überhaupt nicht erfassen. Religion und alle
mit ihr verwandten Sinnesverwirrungen und fanatischen Überzeugungen sind die
schlimmsten Gifte auf dieser Welt. Und schon immer auch kommen sie in einer
materialistischen Spielart, als „goldene Kälber“ in Form von Geld oder blinder
Technikgläubigkeit daher.
Selbstverständlich ist auch in Echra das Leben
nicht nur Glückseligkeit, wäre es so, wäre das wohl auch eine Form der Hölle,
denn alle Lebewesen brauchen den Wechsel, die Spannung und die Entspannung, das
Hungerhaben, das Essen und das Sattsein usw. Kein Hoch gibt es ohne Tief, kein
Glück ohne Unglück, kein Heiß ohne Kalt, kein Hell ohne Dunkel. Jeder Pol hat
seinen Gegenpol. Wer könnte den Tag schätzen, gäbe es die Nacht nicht? Selbst
der Schmerz hat meistens seinen Sinn, als Wegweiser zu einem vernünftigen
Leben. Und wie könnte man dieses verehren ohne den Tod? Erst seine Endlichkeit macht das Leben so
wertvoll.
Nun könnte man vermuten, dass der Tod für Menschen,
die das Leben derart verehren und lieben, eine unerträgliche Vorstellung sein
muss. Doch wir wissen, dass er zum Leben gehört, wie die Geburt. Natürlich
verwünschen wir ihn und wer wollte ihn – wenn er nicht gerade sterbenskrank ist
- nicht vermeiden! Doch wenn wir über ihn jammern und schimpfen, dann grad so,
wie Menschen eben über das Unveränderliche klagen, etwa über das Wetter, den
Winter oder die Schwerkraft...
Der Tod ist uns - der religiösen Ängste und
Hoffnungen entkleidet - ein Nichts. Warum soll man vor Nichts Angst haben? Wir
haben - bevor wir geboren wurden - schon eine Ewigkeit nicht gelebt, und nicht
anders wird es nach unserem Ableben sein.
Greise, die ein erfülltes Leben gelebt haben, denen
schon alle geliebten Gefährten ihres langen Lebens weggestorben sind, die unter
der zunehmenden Gebrechlichkeit ihres Körpers leiden, die nach neunzig Wintern
keinen weiteren mehr erleben wollen, wünschen gelegentlich den Tod herbei, wie
ein müder Mensch die Nacht. Kann man daraus nicht schließen, dass für den
Menschen Unsterblichkeit die größte Strafe wäre? Wer ein wenig überlegt, der
kann die Verheißung „ewigen Lebens“ nur als eine schlimme Drohung auffassen.
Gerade unsere Sterblichkeit muß uns mahnen, unsere
Mitmenschen hier und heute zu lieben und ihr Leben zu versüssen. Der Trost der
Religionen, dass die Toten im Jenseits auf uns warten und sie uns nur
vorausgegangen sind und wir dereinst wieder mit ihnen vereint sein werden, wenn
– ja wenn wir uns den Priestern und ihren Regeln unterwerfen! – ist Mißbrauch
des Trostes zu durchsichtigen Zwecken.
Trösten kann aber auch, wenn wir unsere Lieben in
unseren Herzen bewahren und uns über die gemeinsam erlebten Zeiten freuen und
darüber, sie gekannt zu haben und vielleicht ihre Anliegen weiter verfolgen zu
dürfen.
Wir müssen uns damit abfinden, nur Gäste auf dieser
Erde zu sein und ein Bindeglied in der Kette der Generationen, oder ein
Baustein, auf dem andere weiter aufbauen können.
Dies ist unser Ehrgeiz und wenn wir dafür noch ein
wenig in den Köpfen der Mitmenschen weiterleben dürfen, dann ist das durchaus
ein gutes Gefühl. Deshalb bemühen wir uns unser Leben heute so zu leben, dass
man sich noch eine Weile an uns gerne erinnert, mehr kann man nicht tun und
mehr nicht erreichen.
Aber auch sonst geht von uns nichts verloren, weil
auf dieser Erde nichts verloren geht und sich alles wieder zu neuem Leben wandelt,
gerade so, wie unser Körper sich aus früherem Leben zusammensetzt. Wir sind
Teil des Kreislaufes alles Lebendigen, nicht anders wie jede Pflanze und jedes
Tier. Was heute zu mir gehört, war vielleicht gestern ein Baum, ein Gras, ein
Tier - und wird morgen vielleicht wieder
in einem Baum aufgehen, übermorgen in einem Kraut, in einem Tier, irgendwann
wieder in einem Menschen.
Die Lebenskunst gilt in Echra als die wichtigste
Kunst, die wichtigste Wissenschaft. Wir verstehen darunter sowohl die Kunst des
Überlebens als auch die Kunst gut zu leben, also das Leben interessant,
sinnvoll und möglichst lustvoll zu leben. Sie ist der Ersatz, für den
tierischen Instinkt, den wir verloren haben.
Deshalb legen wir in Echra den Lebenserfahrungen der
Menschen viel Bedeutung bei, denn wer diese geringschätzt, kann aus ihr auch
keine Lehren ziehen und muss alle Fehler immer wieder neu machen. Doch auch in
den Verhaltensmustern der Tiere hat sich die Überlebenskunst großer Zeiträume
niedergeschlagen, sie sind damit ein bedeutsamer Erfahrungsschatz, aus dem wir
durch Beobachtung zu lesen und zu lernen uns bemühen.
Das Leben ist Gabe und Aufgabe. Schwer lebt sich,
wer es nur als das eine oder das andere begreift. Den richtigen Mittelweg zu
finden ist die eigentliche Lebenskunst, das richtige Maß also zwischen Genießen
und sich Mühen. Wer das Leben nur als Gabe begreift, wird leicht über jeden
Stein auf seinem Weg jammern, zumal wenn er sich daran stößt. Wer das Leben nur
als Aufgabe begreift, sucht bald nur noch Steine wegzuräumen und wird blind
gegenüber den Freuden der Welt.
In Anbetracht der vielen Herausforderungen, die das
Leben täglich an uns stellt, ist es sinnvoll seine Einstellung zur Welt so zu
entwickeln, dass man auch aus ihrer Bewältigung Lebensfreude schöpft. Dies
gelingt aber nur, wenn wir unsere Ziele nicht zu weit stecken und uns auch mit
der Bewältigung des täglich möglichen Pensums zufrieden geben. Wer dagegen
seine ganzen Glückserwartungen nur an das Erreichen von fernen Zielen hängt, handelt
unklug, denn das Leben besteht nun einmal in der Hauptsache aus mühevollen
Wegstrecken.
Und noch eine weitere wertvolle Glücksquelle gibt
es: das Glück der anderen. Von dieser Quelle kann nur trinken, wer sich in sie
hineinzufühlen lernt und sich mit ihnen zu freuen versteht. Diese Fähigkeit ist
die edelste aller menschlichen Fähigkeiten, setzt sie doch die Überwindung von
Neid, Gier und Rivalität voraus.
Zur echranischen Lebenskunst gehört auch, dass wir
uns bemühen das Bewußtsein von den Dingen und Geschehnissen zu schärfen, etwa
in dem wir über sie sprechen und ihre Vernetzung in größere Zusammenhänge zu
erfassen suchen. Lust setzt - neben der Bereitschaft dafür - immer auch
bewusste Wahrnehmung voraus, die Fähigkeit zur Empfindung, was meistens auch
Kenntnisse voraussetzt. Wenn uns etwa das Empfinden für die Großartigkeiten der
Natur fehlt, dann ist es grad so, als würden diese nicht existieren.
Wir versuchen auch der Abstumpfung der Sinne durch
Gewöhnung und Reizüberflutung entgegen zu wirken, in dem wir zeitweise Reize zu
meiden versuchen oder uns Gewohnheiten eine Weile versagen. Sinnvoll ist es
auch sich in allen Lebensbereichen auf einem möglichst niedrigen Niveau zu
bewegen, damit Steigerungen überhaupt möglich sind. Der so Verständige kann dadurch
alttägliche Gewöhnlichkeiten immer wieder als Besonderheit genießen.
Lebenskunst ist auch, wenn man sich an dem erfreut,
was man hat und was man kann, nicht erst dann, wenn dies durch einen Schaden
erschwert oder gänzlich unmöglich wird. So erfreuen wir uns bewußt am
Funktionieren unseres Körpers, der Beweglichkeit und Ausdauer unserer Beine,
der Geschicklichkeit unserer Hände, der Kraft der Arme, der Empfindsamkeit der
Ohren, der Nase, der Augen, der Haut.
Wir bemühen uns, wie es vernünftige Menschen schon
immer taten, die Freuden der Gegenwart zu genießen, von denen auch der Alltag
voll ist. Wer diese aber verachtet oder wer blind und taub dafür ist, weil er
Luftschlössern nachjagt, der ist arm dran und Hilfe für ihn ist kaum möglich.
Leiden wir Schmerzen oder ist die Gegenwart durch
Widrigkeiten schwer erträglich, dann erinnern wir uns an erlebtes Glück oder
hoffen auf zukünftiges, auch das kann trösten und über schwierige Phasen
weghelfen. Aber auch die Erinnerung an gemeisterte Schwierigkeiten, an alten
Mut, an verheilte Wunden, geben einem Kraft in schwierigen Zeiten.
„Wächst der Mensch bei Ameisen auf, wird er zur
fleißigen Ameise, bei Schnecken zur schleimenden Schnecke und bei Haifischen
zum reißenden Hai. Ließe man ihn unter Heiligen aufwachsen, würde er vielleicht
zum Heiligen. Leider konnte letzteres mangels Masse noch nicht ausprobiert
werden...“
Dieser Scherz spiegelt sowohl echranische Weltsicht
wie auch unseren Humor. Der hohen Bildsamkeit von uns Menschen durch unsere
Umgebung stehen vergleichsweise verkümmerte Instinkte gegenüber. Vermutlich ist
das eine Folge unserer langen Entwicklungszeit und dem Umstand, dass
Menschenkinder so lange Zeit hilflos und gänzlich auf die Zuwendung und
Versorgung durch die Eltern angewiesen sind. Diese Notwendigkeit verlangt uns
als soziale Wesen, die Verantwortung für andere übernehmen müssen. Wäre es
anders, könnte unsere Art nicht fortbestehen. Aus dem Umstand, dass unsere Art
nicht ausgestorben ist, kann also auf eine ursprüngliche soziale Wesensart des
Menschen geschlossen werden. Gleichzeitig ermöglicht uns auch der Verstand uns
in andere hineinzufühlen, doch muß die Fähigkeit zu Mitgefühl und Verantwortung
von Vorbildern vermittelt und gefördert werden. voraus. Unser Egoismus dagegen
braucht keine Förderung, er ist von Anfang an mit Urkraft da. Manchmal meine
ich, Menschsein ist ein dauernder Kampf gegen diese Kraft. Sozial sein fällt
uns dann leicht, wenn wir auch unser Egoismus dabei profitiert, wir also einen
Nutzen daraus spüren und wir also quasi in einer sozialen Symbiose leben. Das
Gefühl ausgenützt zu werden oder sich nicht auf die anderen verlassen zu
können, stärkt dagegen unseren Egoismus und macht uns unsozial.
Ein neugeborenes Kind hat nur Rechte, Eltern haben
erst einmal nur Pflichten, denn sie alleine sind für das Kind verantwortlich,
das sie gezeugt haben. Aus der Geborgenheit des Mutterleibes ausgestoßen, kann
und darf ein Mensch erst einmal nur das einfordern, was ihm zusteht und
lautstark anzeigen, was was ihm nicht behagt. Mit zunehmendem Alter muss diese
Ich- Bezogenheit schwinden. Sie tut es auch bei liebevoller Umgebung und
entsprechendem Vorbild der Erwachsenen von alleine. Die Interessen der
Bezugspersonen und der übrigen Lebewesen werden erkannt, soziales Verhalten
wird bestärkt. Dieser Prozess vom „Ich-Menschen“ zum „Auch-Du-Menschen“ zieht
sich über Jahrzehnte hin, oft misslingt er gänzlich. Doch erst wenn ein Mensch
gelernt hat „über seinen eigenen Bauch hinaus zu denken“ und in ihm das
Bedürfnis gewachsen ist, sich um andere zu kümmern und für sie zu sorgen, gilt
er nach unserem Verständnis als erwachsen. Erwachsenwerden ist uns ein anderes
Wort für Sozialwerden.
Die deprimierende Irrlehre, dass der Mensch böse
sei, stammt entweder von Priestern, die damit ihren Stand, oder von weltlichen
Herrscher, die damit die Notwendigkeit ihrer Ordnungsfunktion zu rechtfertigen
suchen und damit ihre Existenz.
Auch der oft angestrengte Vergleich mit den Raubtieren
ist falsch, denn diese sind nicht im menschlichen Sinne böse, sie töten nur um
sich zu erhalten, während der instinktarme und von seinesgleichen verwirrte
Mensch auf dieser Erde oft wie ein Rasender wütet und aus niederen Beweggründen
tötet.
Wir Echraner wissen, dass eine freundliche Umwelt,
frei von Not und Ungerechtigkeit und vor allem frei von religiösem und
politischem Fanatismus, freundliche Menschen hervorbringt, die zwar immer noch
keine Lämmer sind, aber zu solchen wollen wir unsere Kinder auch nicht
erziehen.
Wer dagegen in unsicherer, barbarischer Umgebung
lebt, in der menschliche Haie und Wölfe lauern, was bleibt dem übrig, als mit
ihnen zu reißen und zu heulen? Wer mit kalten Wintern lebt, versucht seine
Höhle mit möglichst vielen Vorräten zu polstern. Ebenso handelt, wer in Furcht
vor sozialer Not lebt oder vor Krankheit und Hilflosigkeit im Alter. Davor
suchen sich die Menschen durch Besitz und Reichtum zu schützen, hier liegt
zumindest ein Grund für die menschliche Unmäßigkeit.
Wer sich dagegen vor keinem Winter (auch keinem
sozialen!) und vor keinen materiellen Unbilden fürchten muss, welchen Grund
hätte der zum Raffen und zum Horten? Wobei hier überhaupt nicht das Vorsorgen
und Sammeln kritisiert werden soll, denn das ist in einem gewissen Umfang
sinnvoll und nötig. Bedenklich wird es erst, wenn es in keinem Verhältnis zum
Anlass mehr geschieht, wenn Geld und Wucher ins Spiel kommt und in der Folge
Machtpolitik und Parasitentum. Wohin das führt, kann ja überall außerhalb
Echras verfolgt werden.
Unsere ursprüngliche Natur kann man auch an unserem
Körper und den Organfunktionen ablesen, die sich in für uns unfassbaren Zeiträumen
entwickelt haben. Was sind dagegen die zwanzig oder dreißigtausend Jahre, in
denen sich der Mensch an den Gebrauch von Werkzeugen und Feuer gewöhnt hat?
Erst recht, wenn man die kurze Zeit unserer Zivilisation zu Grunde legt. Dieser
Zeitraum ist viel zu kurz, um biologische Notwendigkeiten zu verändern.
Schaut euch unsere Hände an, mit ihren geschickten
Fingern! Sie eignen sich hervorragend zum Pflücken und Sammeln von Früchten,
Blättern und Wurzeln und nicht zum Fangen, Töten und Aufbrechen von
Tierkörpern! Auch unsere Zähne sind von denen der Raubtiere grundverschieden.
Selbiges gilt für unseren Verdauungskanal, der ein vielfaches länger ist, als
der von Fleischfressern, der eine andere Flora besitzt, andere
Verdauungssäfte, andere Enzyme usw.
Auch wer durch Gewöhnung keinen Ekel beim Verzehren
von erhitzten und kunstvoll zubereiteten Tierleichen empfindet – die
Empfindungen bei einem Besuch in einem Schlachthaus und in einem Obstladen
sind normalerweise sehr aufschlußreich. Wo graut es einem und wo läuft einem
das Wasser im Munde zusammen? Falls euch letzteres im Schlachthaus passieren
sollte, solltet ihr euch vorsichtshalber in fachärztliche Behandlung geben...
Erst mit dem Gebrauch von Werkzeugen und der Beherrschung
des Feuers ist der Mensch zu einem künstlichen Raubtier geworden. Diese
Tatsache ist bemerkenswert genug, zeigt sich doch auch hier die menschliche
Unspezialisiertheit und seine Entwicklungsmöglichkeiten. Der Mensch ist
bildsam und man kann ihn beinahe in jede Form prägen, zu allem abrichten,
selbst zum Morden. Doch unsere ursprüngliche Natur ist eine andere. Gerade die
Tatsache, dass der Mensch so entsetzlich grenzenlos sein kann, in seinem Töten
und seiner Zerstörungswut, zeigt, dass die Natur ihn dafür nicht vorgesehen
hatte. Wäre er ein wirkliches Raubtier, würde er wie diese nur aus Hunger
oder Angst töten.
Hier muss angemerkt werden, dass es aber ein Irrtum
ist, Aggressivität nur mit den Raubtieren in Verbindung zu bringen. Auch
Pflanzenfresser gehen, wenn es um Rang und Revier geht, alles andere als
freundlich miteinander um und schlagen, picken oder stoßen sich zum Krüppel.
Dieses Erbe liegt uns vermutlich näher als das der Raubtiere.
Wir „künstlichen Raubtiere“ sind eine großartige
und gefährliche Spielart der Natur, die ihr sozusagen mit einem Rad aus den
Schienen gesprungen ist, wobei uns gerade dieser Umstand letztlich zu Menschen
gemacht hat. Ein Zurück gibt es nicht mehr, was aber nicht heißt, das es nicht
aus vielerlei Hinsicht vernünftig wäre, wenn wir uns etwa unserer angestammten
Ernährung wieder annähern, unserem Körper und unserer Seele zuliebe und – dass
wir auch unsere tierischen Reste akzeptieren und in eine neue Ethik einfließen
lassen und sie unseren hehren Träumen gleichstellen.
Allen Geschöpfen ist die Erhaltung der Art Zweck
und Ziel des Daseins, auch für uns Menschen gilt das entsprechend. Kinder sind
daher unser wertvollstes Gut und ihre Betreuung und Förderung unsere vornehmste
Aufgabe. Welchen Sinn hätte ohne sie unser Streben? Unsere Zeit Kindern zu
widmen, sie zu beschützen und zu leiten, gilt uns in Echra deshalb als das
Erfüllendste allen menschlichen Tuns.
Wenn wir hören, dass sich die Eltern in eurer
Zivilisation wenig um die Kinder kümmern und oft schon ihre Babys in
Kinderkrippen zur Aufbewahrung geben, weil sie finanzielle Not zur
Berufstätigkeit zwingt oder weil ihnen das Erwerben von Luxusgütern wichtiger
ist, dann können wir das nicht begreifen. Ebenso wenig, dass sogar wohlhabende
und gebildete Eltern ihre Arbeitskraft ohne Not gegen Entgelt verkaufen, weil
sie ihr Elternsein als unbefriedigend empfinden. Sie sprechen dabei oft vom
Recht auf eine berufliche Karriere und von ihrem Recht auf „Selbstentfaltung“,
doch wo bleibt das Recht ihrer Kinder? Das Wertvollste was sie haben, geben sie
in fremde Hände und selber verbringen sie ihre Zeit teilweise mit den
unsinnigsten, ja abartigsten Beschäftigungen. Sie verkaufen sich und ihre Zeit
für Geld, mit den sie dann ihren Kindern Dinge kaufen, statt sich ihnen selber
zu widmen.
Eine derartige Verschiebung der natürlichsten Werte
erscheint mir Ausdruck einer schlimmen Verirrung zu sein. Doch wenn man dann
hört, dass die Väter ihre Familien den ganzen Tag alleine lassen, begreift man,
dass die Frauen in ihrer Isolation verzweifeln und ihr zu entfliehen suchen,
zumal es in eueren wuchernden Städten keine Großfamilien mehr gibt und auch die
Freunde weit verstreut leben.
Kinder alleine können kein Ersatz für soziale
Kontakte sein, können das Bedürfnis nach Begegnung mit anderen Menschen nicht
stillen. Zudem wird in einer materialistischen Gesellschaft, der es nur um
Haben und Kaufen geht, der Wert der Kinderbetreuung kaum anerkannt. Nur was
sich beziffern lässt, gilt als Wert! Den Kindern ergeht es nicht anders als der
Natur. Eine Zivilisation, die sich selber ihre Brunnen und die Atemluft
vergiftet, hat natürlich auch das Gefühl für den Wert ihrer Kinder verloren.
Auch wenn es bei uns in Echra keinen Markt gibt,
auf dem Waren und Menschen für Geld gehandelt werden, so wissen wir doch, dass
ein Zuviel von etwas dieses im Wert sinken lässt, dies Prinzip gilt nicht nur
bei Waren. Auch ein Zuviel an Menschen führt zu einer Abwertung des einzelnen.
So wie in dünnbesiedelten Gegenden der einzelne viel und in den Massenquartieren
der Städte wenig gilt, so verlieren auch Kinder im Bewusstsein der Gesellschaft
an Wert, wenn sie wegen ihrer großen Zahl nicht mehr als Kostbarkeit, sondern
vielleicht sogar als Bedrohung von allzu begrenzten Revieren gesehen werden.
Um die große Wertschätzung für Kindern zu erhalten,
sie auch optimal fördern zu können und um auch nicht das ökologische
Gleichgewicht zu gefährden, haben echranische Familien selten mehr als zwei
oder drei Kinder, wodurch die Gesamtbevölkerung in etwa gleich bleibt. Würde
diese wachsen, müssten nach und nach die Wälder gerodet und der Lebensraum
der wildlebenden Tiere eingeschränkt werden. Dies möchten wir vermeiden, denn
die Welt gehört nicht nur den Menschen.
So wie Pflanzen zum Gedeihen Licht, Wasser, Nährstoffe
und Wärme benötigen, so brauchen Menschenkinder - sollen sie einmal liebevolle
und verständige Erwachsene werden – ebensolche Vorbilder. Edle Grundsätze und
schöne Reden sind wertlos, wenn sie nicht auch vorgelebt werden. Erziehen kann
man also nur dadurch, in dem man sich selber erzieht. Doch sollte jedem
Erzieher bewußt sein, dass er nur ein Baustein in der Entwicklung eines Kindes
sein kann, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Das echranische Bildungssystem unterscheidet sich
von dem eueren in wesentlichen Punkten. Schulen, wie ihr sie kennt, gibt es bei
uns nicht. Es gibt weder Zensuren noch bezahlte Lehrer. In der Folge auch kein
Strebertum und keine vordergründige Anpassung, kein erzwungenes Büffeln für
Prüfungen, kein Pauken von Phrasen, Formeln und Jahreszahlen, die jeder sowieso
gleich wieder vergisst und die leicht in Büchern nachzuschlagen sind.
Menschen müssen nicht zum Lernen gedrängt werden,
denn die Neugierde gehört zu unserem Wesen wie die Vorsicht zum Hasen. Kinder
trachten ganz von alleine danach, sich das anzueignen, was den Erwachsenen
Vorteile verschafft und was sie zu einem menschenwürdigen Leben benötigen.
Schulen spiegeln immer auch die Lebenswirklichkeit einer Kultur, dementsprechend
anders als bei euch sind sie in Echra. Nicht der angepasste Spezialist mit
seinem engen Horizont ist bei uns gefragt, sondern der selbständig denkende und
soziale Mensch, der sich in allen Lebensbereichen auskennt und zurechtfindet.
Wir kennen keine umrissenen Schulzeiten, denn wir
lernen unser Leben lang. Lernen ist uns nicht weniger Grundbedürfnis wie Essen
und Trinken.
In eueren Schulen dagegen treibt man den Kindern
diese natürliche Lust am Lernen aus, in dem man ihnen Scheuklappen aufsetzt
und sie einen zielgerichteten Hürdenlauf absolvieren lässt, bei dem sie alles
ignorieren müssen, was links und rechts der Strecke liegt. Zudem werden in der
Hauptsache solche Erkenntnisse und Fertigkeiten vermittelt, die Menschen nicht
ohne weiteres von sich aus lernen würden, also fremdbestimmten Stoff, den
beispielsweise die Wirtschaft für ihre maßlose Produktion braucht, Stoff, mit
dem sich der Staat legitimiert usw. Nicht der gebildete, zur Improvisation
fähige und in der Lebenskunst bewanderte Mensch ist das Ziel, sondern der
angepasste Streber, der an Stillsitzen und Vergessen seiner eigenen Wünsche
und Antriebe gewöhnt wurde und der alles weiß, nur nicht, was für ein autonomes
Leben nötig ist. In eueren Schulen werden die Kinder für die arbeitsteilige und
egoistische Gesellschaft abgerichtet und ihre Köpfe mit unzusammenhängenden
Fakten gefüllt, bei denen ein Bezug zum wirklichen Leben die Ausnahme ist. So
denken die Menschen schließlich in Schablonen, messen in fremden Maßstäben und
taugen - so verkrüppelt wie sie nun sind - für den verrückten Berufsalltag, in
dem sie nichts hinterfragen und nur wie die sie umgebenden Maschinen
funktionieren sollen.
Euere Schulen sind also Dressuranstalten, die es
alleine deswegen gibt, weil euer Wirtschaftssystem einen bestimmten
Ausbildungsstand für seine Produktion benötigt, einschließlich der Bereitschaft
dazu und jener sich unterzuordnen. Mit dem fremdbestimmten Lernstoff werden ja
auch Geisteshaltungen, fremde Wertmaßstäbe, engstirniges formales Denken und
überwiegend schlechte Verhaltensmodelle von lustlosen Lehrern verfrachtet, auf
die wir in Echra keinen Wert legen. Uns erscheint daher die Schulpflicht und die
dahinterstehende Geisteshaltung als Willkür und Gängelung, ja, als dreister
Diebstahl, bei dem nicht irgendwelche ersetzbaren Dinge weggenommen werden,
sondern die eigenen Kinder.
Wir verstehen auch nicht, wie ihr auf die große
Freude verzichten könnt, eueren Kindern Grundfertigkeiten wie Lesen, Schreiben
usw. selber beizubringen.
Ich weiß, dass euere Schulpflicht in Zeiten großer
Unwissenheit und harter Ausbeutung einmal ein bedeutsamer Fortschritt gewesen
ist. Doch auch noch nach hundert Jahren scheinen die Menschen nicht willens und
gebildet genug, als dass man ihnen die Entwicklung ihrer Kinder anvertrauen
könnte, nur die Pflichtschule hebt auch die benachteiligten unter ihnen auf
ein Mindestniveau. Doch uns Echranern ist auch dieser Begriff „Niveau“ suspekt,
denn wir wollen die Menschen nicht nivellieren und nicht messen.
Jeder Echraner ist im Alltag zugleich Lehrer und
Schüler. Auch die Kinder machen dabei keine Ausnahme, die Jüngeren lernen von
den Älteren. Wer etwas lernen will, wendet sich an seine Eltern, Geschwister,
Verwandten, Freunde oder Nachbarn, oder auch an seine Kinder, wenn die etwas
können, was einem fehlt. Es gibt wohl nur wenige Echraner, die nicht gerade
einem anderen etwas beibringen oder sich etwas beibringen lassen. Die Vielfalt
unserer Bildungsangebote ist entsprechend. Angeboten wird, was nachgefragt
wird.
Vermutlich ist der Schlüssel zu diesem allgemeinen
Lernhunger im eigenen Antrieb zu suchen, denn wer etwas lernen will, weil es
ihn danach drängt, lernt mit unvergleichlich größerer Intensität, als dies in
Schulen üblich ist, wo Lernstoff angeboten wird, zu dem in aller Regel der
Bezug fehlt und der nur des schulischen Fortkommens wegen, oft mit großem
Widerwillen gelernt wird.
Unsere Lernangebote sind auch weniger kopflastig
wie bei euch. Handwerkliche Fertigkeiten sind uns grad so wichtig wie
theoretische. Viele Arbeiten lernen wir einfach dadurch, weil wir mit ihnen
aufwachsen: wie Nahrung angebaut und zubereitet wird oder wie
Gebrauchsgegenstände gefertigt werden. Wir lernen Holz zu bearbeiten und daraus
Möbel, Werkzeuge, Hütten und Häuser zu bauen. Wir lernen Körbe zu flechten,
Gefäße aus Lehm zu formen und zu brennen, Wolle zu spinnen und daraus Kleidung
herzustellen. Wir lernen zu nähen, zu stricken, zu weben, zu knüpfen und was
es sonst noch an nützlichem Handwerk so gibt.
Nicht zu kurz kommen auch künstlerische Fähigkeiten
wie Musizieren, Singen, Theaterspielen, Modellieren, Malen, oder auch nur die
Fähigkeit, mit offenen Augen die Welt zu betrachten und zuzuhören.
Und trotz der Vielfalt unserer Tätigkeiten finden
wir durchaus auch noch Zeit zum Faulenzen. Vielleicht, weil wir uns von der
Neuerungs- und Verbesserungssucht befreit haben und wir das, was sich bewährt
hat, lassen wie es ist. Darum ist auch derjenige, der es versteht nur soviel
zu tun, wie nötig, in Echra gut angesehen. Wer dagegen ständig durch die
Gegend hetzt und meint, noch dieses oder jenes unbedingt zu seinem Glück zu
brauchen, der wird bemitleidet, denn er gilt uns von einer schlimmen Krankheit
befallen.
Doch wieder zum Lernen.
Wesentlich erscheint mir dabei, dass in Echra
Theorie und Praxis nicht getrennt sind. Alles steht miteinander in Beziehung,
hat Ursachen und Folgen, nichts wird isoliert vermittelt. Problemlöseverhalten,
Improvisieren, Partnerschaftlichkeit und die Fähigkeit zur Kooperation
erwachsen unserem Alltag grad so selbstverständlich, wie die Achtung gegenüber
Mitmenschen, Tieren und Pflanzen.
Jedes unserer Dörfer besitzt ein Gemeinschaftshaus,
das auch kulturelles Zentrum ist. In ihm ist eine Bibliothek untergebracht und
es finden Veranstaltungen statt wie Konzerte, Theateraufführungen, Filme,
Tanz, Vorträge und Gesprächsrunden. Die Wände der Räume werden - etwa im monatlichen
Wechsel - mit bildnerischen Arbeiten einheimischer oder fremder Künstler
geschmückt. Die kulturellen Kontakte zwischen den Dörfern sind überaus rege.
Es ist deswegen keine Anmaßung, wenn ich uns Echraner als gebildetes Volk
bezeichne, dem die schönen Künste ebenso am Herzen liegen, wie die große Kunst
der Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit und des Nahrungsanbaues und - vor allem:
die Kunst glücklich zu leben!
Der Mensch besteht eben aus Kopf und Händen. Wo nur
das eine gefördert wird, verkümmert das andere. Hier ist Gleichgewicht nötig,
sonst entstehen Menschen mit Schlagseite.
In Echra gibt es keine Städte, weil Menschen überschaubare
Strukturen brauchen. Städte sind steingewordene Arbeitsteiligkeit und
Entfremdung, Nährboden für Parasitentum, Künstlichkeit und Anonymität. Sie sind
ein lebensfeindlicher, hässlicher, materialisierter Irrweg, sie machen den
Menschen zur Ameise. Anonym und in hunderterlei Fesseln, Abhängigkeiten und
Unnatur verstrickt, spiegelt sich bald in seinem Kopf das unwirtliche Äußere,
das ihn umgibt.
Wir Echraner wohnen deswegen in Dörfern mit nur
wenigen hundert Einwohnern, diese Größenordnung hat sich bewährt.
Unsere Dörfer sind meist Streusiedlungen. Die Wohnhäuser
stehen auf eigenem Land, das sowohl der Selbstversorgung als auch dem „gesunden“
Abstand von den Nachbarn dient. Daneben gibt es Gemeinschaftsflächen, in der
Hauptsache Felder, Wald und Weiden. Doch darüber mehr im Kapitel über den
Landbau.
Eine zweite verbreitete Wohnform sind die Kooperativen,
in denen zwar auch jede Familie ein eigenes Haus bewohnt - meist um einen
baumbestandenen Park gereiht - in der alle Agrarflächen und Werkstätten aber
gemeinschaftlich bewirtschaftet werden. Das geregelte Leben dort ist nicht
jedermanns Sache. So mancher fürchtet um seine individuelle Freiheit und mag
sich der Gemeinschaft nur anschließen, wo es die Notwendigkeit gebietet. Es
gibt aber genug Echraner, die nirgendwo anders leben möchten.
Sowohl Dorf wie Kooperative haben ihre Vorzüge, die
- je nach Einstellung - auch als Nachteile erscheinen mögen. So bringt das
räumlich engere Zusammenleben in den Kooperativen größere soziale Nähe, aber
auch den Zwang sich über hundert Dinge abzustimmen. Die Arbeitsteilung bringt
einerseits Verpflichtung, andererseits aber auch einen Zeitgewinn, da alle
anfallenden Arbeiten im Wechsel reihum verteilt werden.
Aus der Notwendigkeit Rohstoffe zu fördern und zu
verarbeiten, gibt es in Echra noch eine dritte Wohnform, vergleichbar etwa den
Kooperativen, wir nennen sie „Zeitdörfer“. Hier leben vorwiegend junge Leute
für begrenzte Zeit, meist für etwa fünf Jahre. Die Zeitdörfer fördern Rohstoffe
oder stellen Güter technischer Art her, die in den Dörfern nicht, oder nur sehr
umständlich gefertigt werden könnten.
Durch diesen Dienst der jungen Echraner können wir
alle mit dem Nötigen versorgt werden. Die Zeitdörfer sind bei den jungen Leuten
auch sehr beliebt. Zum einen ist das Zusammenleben in einer Gemeinschaft mit
Gleichaltrigen eine reizvolle Sache (auch die Partnersuche wird erleichtert),
zum anderen kommt es zur Abnabelung vom Elternhaus, was ja für die Entwicklung
jedes Menschen sehr wichtig ist.
Manche ältere Echraner empfinden das intensive und
lockere Gemeinschaftsleben mit den jungen Leuten als sehr angenehm und bleiben
ein Leben lang in den Kooperativen, andere kehren immer wieder auf Zeit dorthin
zurück.
Naturgemäß ist bei uns das Verhältnis zwischen Eltern
und Kindern recht freundschaftlich, daher auch von Dauer. Die Beziehungen
bleiben auch während der Dienstzeit in den Zeitdörfern erhalten. Später siedeln
sich die verheirateten Kinder gern wieder in der Nähe der Eltern an, zumal die
Versorgung der Eltern im Alter selbstverständlich ist. Doch sollte ich hier
vielleicht darauf hinweisen, dass in Echra Greise, die gänzlich versorgt und gepflegt
werden müssen, eher selten sind. Die meisten Echraner bleiben bis ins hohe
Alter recht rüstig, vermutlich wegen ihres bewegungsreichen und stressarmen
Lebens in der Natur. Auch die Eingebundenheit in die Gemeinschaft und die allgemeine
Wertschätzung der älteren Menschen spielen wohl eine Rolle. Jeder kann sich bis
zu seinem letzten Tag nützlich machen und niemand wird wegen seines Alters
ausgegrenzt.
Nach dem Tod des Partners schließen sich Einzelnstehende
gerne zu Wohngemeinschaften zusammen, oder sie ziehen zu ihren Kindern. Die
Enkel - soweit vorhanden und im entsprechenden Alter - übernehmen dann Haus
und Land der Großeltern.
Der menschliche Körper ist die Voraussetzung, quasi
das Instrument unserer Existenz. Ein
gutes Leben leben bedeutet, alle Töne dieses Instrumentes zu spielen. Einige
davon zu tabuisieren, erscheint uns wenig vernünftig. Erst recht, wenn es sich
um jene Klänge handelt, die uns die größte Lebensfreude schenken können.
Die menschliche Art kann als einzige frei über
Sexualität verfügen, bei ihr hat sich die körperliche Vereinigung vom Akt zur
Arterhaltung zum jederzeit erfahrbaren lustvollen Tun gewandelt. So wurde sie
zu einer Quelle von Glück, die selbst trostlose Zeiten versüßen kann.
Sexualität als niedrig oder tierisch zu bezeichnen, wie es bei euch manche
Religionen tun, ist absurd, denn Tiere vereinigen sich nur zur Arterhaltung
und die Geschlechter sind außerhalb der Paarungszeiten nicht aneinander
interessiert, wobei manche Primaten hier eine Ausnahme machen. Doch Erotik und
Liebe gibt es vermutlich nur bei uns Menschen.
Die Natur hat uns dieses Geschenk sicher nicht ohne
Grund gemacht, vermutlich steht es in Beziehung zu der langen Entwicklungszeit
der Menschenkinder. Zärtlichkeit und Wollust bindet die Menschen aneinander.
Sich hier nur auf nützliche Erwägungen des Menschenverstandes oder gar auf
menschengemachte Moral zu verlassen, war der Natur wohl eine zu unsichere
Basis. Gemeinschaft ist für die Kinderaufzucht, damit für die Erhaltung der
Art, von entscheidender Bedeutung. Kinder brauchen zu ihrer Entwicklung
verlässliche Bezugspersonen und hier ist körperliche Zuneigung und Begehren ein
bewährter Kitt.
Manche Echraner behaupten, die menschentypische
Erotik ende eigentlich beim Koitus, da diesen auch die Tiere vollziehen. In
jedem Fall gilt uns die körperliche Vereinigung nur als eine Möglichkeit
sexuellen Beisammenseins, wir schätzen alle Formen von Zärtlichkeit.
Auch wenn es in Echra keine Ehe gibt, leben die meisten
Erwachsenen doch in festen Zweierbeziehungen, weil diese sich – trotz aller
immer wieder auftretender Probleme – am besten bewährt haben. Aber es gibt auch
gelegentlich Wohngruppen, in denen die Partnerbeziehungen zumindest nach außen
nicht klar ersichtlich sind und wo die Kinder zu allen Männern „Vater“ und zu
allen Frauen „Mutter“ sagen. Doch sind solche Familienstrukturen eher selten,
denn die dauerhafte Zweierbeziehung scheint dem menschlichen Bindungsbedürfnis
doch am meisten zu entsprechen. Abgesehen von medizinischen und
eigentumsrechtlichen Problemen, die sich in festen Partnerbeziehungen
offensichtlich am besten lösen lassen, sind es auch solche der
Arbeitsorganisation und der Kinderaufzucht. Wechselnde Partnerschaften erzeugen,
wie sich immer wieder zeigte, einen psychischen Dauerstress, dem die meisten
Menschen nicht gewachsen sind und der sich auch auf die Versorgungssicherheit
der Gemeinschaft negativ auswirkt.
Liegt ein Echraner im Sterben, ist es üblich, dass
ihn Nachbarn und Freunde besuchen und ihn in seiner schweren Stunde nicht
alleine lassen. Wir hören dem Sterbenden zu, wenn er etwas sagen will,
schweigen mit ihm, wenn er schweigen will und erzählen, singen oder musizieren,
wenn er das wünscht. Natürlich lassen wir ihn auch alleine, wenn er alleine
sein möchte.
Ist das Sterben von Schmerzen begleitet, so lindern
wir diese durch die Gabe von entsprechenden Mitteln, die der Koordinator
verwahrt hält. Würde ein schwer Leidender, für den keine Aussicht auf Genesung besteht,
wiederholt um die Erlösung von seinen großen Qualen, durch ein sein Leben
beendendes Gift bitten, so müsste darüber ein Rat aus Verwandten und Freunden
mit einem einstimmigen Urteil entscheiden. Derartige Fälle sind aber sehr
selten.
Unsere Verstorbenen begraben wir am Rande des Urwaldes,
von dem unsere Dörfer umschlossen werden. Zur Erinnerung an die Toten wird auf
das Grab ein Stein gelegt, den sich der Verstorbene schon zu Lebzeiten selber
ausgesucht hat und der zum Sitzen und Meditieren einlädt.
Pedantisch gepflegte und durch Umrandungen abgegrenzte
Gräber, gibt es bei uns nicht. Die Begräbnisstelle wird bald Teil der sie
umgebenden Natur.
Manche Echraner wünschen verbrannt zu werden. Nicht
selten errichten sie sich ihren Scheiterhaufen noch zu Lebzeiten. Sie finden
den Gedanken tröstlich, mit dem Rauch des Feuers in den Himmel zu steigen und
sich über die ganze Welt zu verteilen. Ihre Asche verstreuen die Angehörigen
nach dem Wunsch des Toten am Waldrand oder in ein Gewässer.
Bei einem Begräbnis versammeln sich die Dorfbewohner
um das Grab, das sie zuvor gemeinsam ausgehoben haben. Der Koordinator des
Dorfes erzählt dann vom Leben und Wirken des Verstorbenen, Freunde spielen
seine Lieblingsmusik, lesen aus seinem Lieblingsbuch und tragen einen, von dem
Verstorbenen noch zu Lebzeiten verfassten Abschiedsbrief vor. Darin erzählen
sie etwa von Freude und Leid, bedanken oder entschuldigen sich bei den
Verwandten und Freunden und manchmal formulieren sie ihre Hoffnungen und
Wünsche an die Nachwelt.
Danach füllen die Versammelten gemeinsam das Grab
oder entzünden den Scheiterhaufen.
Nach dem Begräbnis versammeln sich die Dorfbewohner
im Gemeinschaftshaus zum Totenmahl, zum Trost für die Angehörigen und zur
Ehrung des Toten. Nachdem man gegessen hat, wird von angenehmen Begebenheiten
erzählt, die man mit dem Verstorbenen hatte.
Niemals endet eine Totenfeier, ohne dass den Angehörigen
Solidarität zugesichert wird. Wenn nötig, werden auch gleich konkrete
Hilfsmaßnahmen besprochen. Dies alles macht hoffentlich die große Wertschätzung
deutlich, mit der wir einander noch über den Tod hinaus behandeln.
Echra ist ein demokratisches Land, weil Demokratie
ein brauchbares Werkzeug ist, jene Entscheidungen zu treffen, die alle angehen.
In private Angelegenheiten durch Mehrheitsentscheidungen hinein zu bestimmen,
ist bei uns völlig unvorstellbar.
Wir übertragen unsere demokratischen Rechte auch
nicht per Kreuzchen auf einem Stimmzettel an Berufspolitiker und Parteien –
beide gibt es in Echra nicht – und hoffen dann über Jahre ohnmächtig, dass
diese ihre Macht nicht missbrauchen. Wir dagegen bestimmen unsere Geschicke
selber, denn unsere Demokratie ist nicht repräsentativ sondern direkt. Über
alle Fragen des dörflichen Zusammenlebens wird gemeinsam in regelmäßigen
Vollversammlungen beraten und entschieden. Mehrheitsentscheidungen sind nur
gültig, wenn keine Minderheiten dadurch geschädigt werden. Es muss nach
Lösungen gesucht werden, die alle zufrieden stellen oder mit der zumindest alle
leben können.
Alle fünf Jahre werden in den echranischen Dörfern
Koordinatoren gewählt, die höchstens ein zweites Mal berufen werden können. Bei
jeder Neuwahl soll ein Geschlechterwechsel stattfinden.
Die Koordinatoren haben die Aufgabe dörfliche Abläufe
abzustimmen und die Dorfgemeinschaft nach außen zu vertreten. Es gilt als
große Auszeichnung in dieses Amt gewählt zu werden. Gerne werden Persönlichkeiten
dafür bestimmt, die im Alltag durch Bescheidenheit und Warmherzigkeit auffallen.
Großsprecherische Wichtigtuer und Blender - soweit es solche bei uns überhaupt
gibt - können sicher sein, niemals zum Koordinator gewählt zu werden.
Wir sehen unsere Koordinatoren als eine Art „Väter“
oder „Mütter“ unseres Dorfes. Ihre Aufgabe ist es, die notwendigen
gemeinschaftlichen Arbeiten abzustimmen, den einzelnen ihren Anteil am Gemeinschaftsbesitz
zuzuteilen, Bestellungen an die Zeitkooperativen weiterzuleiten und die
gelieferten Güter zu verteilen. Sie organisieren das Bildungsprogramm, besiegeln
Lebensgemeinschaften, registrieren Geburten und Todesfälle und haben die
Aufgabe in Konflikten zu vermitteln. In politischen Angelegenheiten sind sie
an die Beschlüsse der Vollversammlung gebunden.
Die Mitbestimmung über die Landespolitik erfolgt
durch eine Art Fragebogen, auf dem anstehende Sachthemen aufgelistet und der
Bevölkerung vorgelegt werden. Diese dörflichen Meinungsbilder werden durch die
Koordinatoren in die Landespolitik eingebracht und umgesetzt. Letztere wird
von zwölf Vertretern besorgt, die Koordinatoren aus ihren Reihen für eine
Amtszeit von fünf Jahren wählen, übrigens wieder halb Männer, halb Frauen.
Diese Gewählten stehen dann in den Dörfern nicht mehr zur Verfügung und ziehen
für die Dauer ihrer Dienstzeit gemeinsam in eine spezielle Kooperative, von der
sie bei ihrer Aufgabe unterstützt werden.
Bei uns fängt Demokratie also dort an, wo sie bei
euch aufhört: im täglichen Leben. Wenn ich unsere Demokratie mit dem
Polittheater bei euch vergleiche - wo sich Politiker und Parteien alle paar
Jahre anpreisen wie Zahnpasta oder Seifenpulver, sich wie Schauspieler
gebärden und oft (nach fremdem Drehbuch spielend), ihre Gegner verleumden und
erniedrigen, um selber größer zu wirken - dann bin ich immer sehr erleichtert,
dass es bei uns anders zugeht.
Ich bedauere Wähler, die sich immer wieder durch
die Phrasen und Versprechungen der Politiker verführen lassen und dann nach der
Wahl erleben, wie sich die Gewählten als gekaufte Agenten mächtiger Interessengruppen
entpuppen. Zweifellos gibt es auch bei euch ehrliche Politiker, die in bester
Absicht handeln, doch wie oft können die sich über die Parteidisziplin und die
Fraktionszwänge hinwegsetzen und als einzelne etwas bewegen?
Der Wähler kann immer nur ein von den Parteien geschnürtes
Bündel wählen. Was bleibt ihm, als notgedrungen sein Kreuzchen vor die
Gruppierung zu setzen, die ihm als das kleinere Übel erscheint? Da dies mit
Volksherrschaft wenig zu tun hat, erscheint uns die Bezeichnung „Demokratie“
dafür ein Etikettenschwindel zu sein. Wir lehnen die Parteiendemokratie ab,
weil Parteien „parteiisch“ sind, also erst einmal ihre Organisation vertreten,
deren Interessen und Überzeugungen.
Bei uns gibt es keine Parteien, also auch keine
Klüngelein, keine Ideologien, keine Fraktionszwänge, keine Lobbykratie, keine
Fensterreden und keinen Korpsgeist. Wir wählen den Nachbarn unseres Vertrauens
zum Koordinator, entscheiden über die Sachfragen in den dörflichen
Vollversammlungen und den schriftlichen Abstimmungen und behalten so alle Fäden
mit in der Hand. Es gibt keinen Grund, warum ähnliches nicht überall
funktionieren sollte. Doch von „direkter Demokratie“ wollen Parteien natürlich
nichts wissen, denn damit würden sie sich selbst entmachten.
Die Rechten spielen das Spiel mit der parlamentarischen
Demokratie sowieso erfahrungsgemäß nur solange, wie es sich wirtschaftlich
rentiert. Ist dies nicht mehr der Fall, lassen sie ihre oft religiös getarnte
Larve fallen und zeigen ihr autoritäres Gesicht. Das Volk schätzen sie nur,
solange es sich von ihnen führen lässt. Muckt es offen gegen sie auf, nennen
sie es gern „Pöbel“. Und dass dieser das Sagen haben soll, ist ihnen eine
grauenhafte Vorstellung, denn sie stehen auf Eliten, womit sie sich selber
meinen. Insgeheim wissen sie aber wohl genau, dass die Bevölkerung in vielen
Punkten viel weiser abstimmen würde, als es der privaten Wirtschaft angenehm
sein könnte. Oder glaubt jemand ernsthaft, dass zerstörerische Großprojekte wie
Atomanlagen, Autobahnen, Großflughäfen und der ganze Rüstungswahnsinn noch
durchzusetzen wären? Nie und nimmer! Darum fürchten die Rechten die direkte
Demokratie wie der Teufel das Weihwasser...
Und warum sind die Linken gegen direkte Demokratie?
Einmal wohl, weil sie auch nur in den Kategorien von Lohnerhöhungen und
Wirtschaftswachstum denken, sie sind ebenso am Haben orientiert, wenn auch mit
anderen Vorzeichen. Sie glauben ebenso an seligmachende Technik, an unendliche
Ausbeutbarkeit der Erde und erwarten sich das Heil im Konsum von Waren. Sie
haben wohl Gerechtigkeit und Wohlstand für alle auf ihren Fahnen stehen (was
sie erst ein wenig sympathischer macht), doch sind ihre Triebkräfte Neid und
Gier wie bei den Rechten. Sie lehnen zwar empört den Begriff der Eliten ab,
begreifen sich aber gleichzeitig selber als Avantgarde, die allein weiß, wo es
langgeht und was gut für die Menschen ist. Gelegentlich führen sie als Begründung
ihrer Ablehnung von direkter Demokratie die Sorge vor der Verführbarkeit der
Menschen ins Feld. Richtig ist, dass eine direkte Demokratie nur funktionieren
kann, wenn Parteipropaganda und Demagogie durch sachliche Aufklärung ersetzt
wird, denn eine Demokratie braucht sachkundige Bürger.
In Echra werden deshalb über anstehende Fragen
grundsätzlich Informationsversammlungen abgehalten, in denen die verschiedenen
Ansichten zu einem Thema gegenübergestellt werden. Wer sich dennoch nicht
entscheiden kann oder sich zu informieren versäumt, enthält sich bei der
Abstimmung beim entsprechenden Punkt seiner Stimme oder urteilt nach dem
Gefühl.
Früher haben wir die Teilnahme an Abstimmungen vom
Besuch der Informationsveranstaltungen abhängig gemacht. Doch diese Regelung
hat sich als überflüssig erwiesen, da es für Echraner keine Prestigefrage
ist, so zu tun als wisse man alles. Wer sich irgendwo nicht auskennt,
überlässt die Entscheidung eben denjenigen, die sich damit befasst haben.
Ein wichtiges Werkzeug von Demokratie ist auch in
Echra das geschriebene Wort. Doch ist bei uns die öffentliche Meinung nicht nur
die Meinung derjenigen, die sich ihre zu veröffentlichen leisten können. Wir
schätzen auch in diesem Bereich keine Arbeitsteilung und denken lieber selber!
So sind echranische Zeitungen immer die Zeitungen der Echraner. Jedes Dorf
bringt alle paar Wochen eine Zeitung heraus, in der alle Artikel von den
Bewohnern verfasst werden. Eilige Informationen werden am Gemeinschaftshaus
angeschlagen oder von Mund zu Mund verbreitet.
Neben dem lokalen Teil hat jede Zeitung einen
überregionalen, darin werden Artikel von allgemeinem Interesse aus allen
Dörfern zusammengefasst. Auf diese Weise entstehen umfangreiche Publikationen,
die einen regen Meinungsaustausch über das ganze Land gewährleisten.
Da die Zerstörung der Biosphäre nicht an nationalen
Grenzen halt macht und Menschenrechtsverletzungen oft internationale
wirtschaftliche Verflechtungen zu Grunde liegen, kann nur übernational dagegen
vorgegangen werden. Voraussetzung dafür ist verbindliches internationales
Recht und die Möglichkeit seiner Durchsetzung.
Aus diesem Grunde befürwortet Echra eine internationale
Kontroll- und Regelungsinstanz, etwa aufbauend auf der bestehenden UN, die aber
in wesentlichen Bereichen umstrukturiert werden muss. Ein Weltsicherheitsrat,
wie er heute schon besteht und in dem die militärisch und wirtschaftlich
mächtigsten Länder als ständige Mitglieder versammelt sind, die nebenbei die
größten Waffenproduzenten sind, wird von uns abgelehnt. Ein ordentlicher
Weltsicherheitsrat sollte aus unabhängigen, integeren Vertretern aller Staaten
gebildet werden. Nach unserem Verständnis soll alleine diese internationale
Gemeinschaft weltweit über das Gewaltmonopol verfügen und kein Land mehr
Armeen und Kriegswaffen besitzen dürfen.
Grundsätzlich gilt die Vorgabe, dass ein Schaden
durch den Schädiger wieder gutzumachen ist.
Konfliktfälle, bei denen sich streitende Parteien
nicht einigen können, werden erst dem Dorfkoordinator vorgetragen, der sich um
eine gütliche Beilegung bemüht. Nimmt eine Konfliktpartei den Rechtsentscheid
nicht an oder handelt es sich um ernstere Konfliktfälle, wird die Sache einem
Gericht aus ehemaligen Koordinatoren übertragen. Die Urteile orientieren sich
an den Besonderheiten und Notwendigkeiten des einzelnen Falles und können sehr
weitgehend sein, wenn der Schutz der Gemeinschaft dies nötig macht.
Normalerweise darf ein Übeltäter seine Strafe selber vorschlagen, das Gericht
kann diese aber ablehnen und von sich aus eine angemessenere festsetzen.
Da es in Echra keine Polizei gibt, wird im
Bedrohungs- oder Katastrophenfall eine Dorfwehr aufgestellt.
Die Freiheit des einzelnen ist in Echra ein hohes
Gut und Bevormundung gilt uns als unsittlich. Die persönliche Freiheit hat nur
dort ihre natürliche Grenze, wo die der Mitmenschen beginnt. In allen
Bereichen, die keinem anderen schaden, gibt es für den einzelnen keinerlei
Einschränkungen. Jeder Echraner gestaltet sein Leben, wie es seinen
Bedürfnissen und Vorstellungen entspricht. So ist es in Echra undenkbar, dass
sich die Gemeinschaft mit allgemeinen Regeln und Vorgaben in diesen privaten
Freiheitsraum einmischt, beispielsweise in weltanschauliche oder religiöse
Dinge, das äußere Erscheinungsbild eines Menschen oder sein Verhalten. Ebenso
wenig bestimmt die Gemeinschaft, wie und wo einer sein Wohnhaus zu bauen hat,
es sei denn, ein Nachbar hätte davon Nachteile.
Der Alltag bringt genug Abhängigkeiten und Nöte mit
sich. Die Menschen zusätzlich zu gängeln und ihnen das Leben zu vergällen,
lehnen wir aus tiefstem Herzen ab.
Jeder Echraner versucht für sich möglichst viel
Freiheit zu verwirklichen, etwa Freiheit von Krankheit und Schmerz durch
vernünftige Lebensführung, Freiheit von Bedrohungen durch die Mitmenschen, in
dem er sich freundlich und hilfsbereit verhält, Freiheit von Todesfurcht durch
Beseitigen ängstigender Vorstellungen von einem Strafgericht nach dem Tod.
Nun wird ja auch außerhalb Echras viel von Freiheit
gesprochen, doch scheint diese meist nur ein Synonym für Egoismus und
Rücksichtslosigkeit zu sein. Oder wie soll man einen Zustand nennen, in dem
alles produziert werden darf, egal, ob es Nutzen bringt oder Schaden? Eine
„Freiheit“ die es gestattet, die Atmosphäre mit irrsinnigen Mengen von Schmutz
und Gift zu verunreinigen, die Flüsse als Abwasserkanäle zu missbrauchen, eine
„Freiheit“, die den Betrieb von Atommeilern erlaubt, obwohl die Rückstände
daraus noch Tausende von Jahren die Nachfahren gefährden, eine „Freiheit“, die
immer neue Chemikalien in die Biosphäre abgibt, ohne die Folge- und
Kombinationswirkungen zu kennen, - eine „Freiheit“, die die Ressourcen des
Planeten plündert, so als ob es keine zukünftigen Generationen mehr gäbe-,
eine „Freiheit“, die das Land mit Straßen durchschneidet und erlaubt, mit
stinkenden und lärmenden Maschinen darauf zu rasen und jährlich Menschenopfer
in Größenordnungen hinnimmt, wie man sie von Kriegsstatistiken kennt – das sind
Zerrbilder von Freiheit. Der Begriff Freiheit wird missbraucht, ja, er wird
geradezu im gegenteiligen Sinn verwandt. Wie sonst könnte man einen Menschen
„frei“ nennen, der von tausenderlei Konsumwünschen getrieben wird, der durch
Warenrausch, Gier, Ruhm- und Machtsucht, Stolz und Ehrgeiz wie eine Marionette
ferngesteuert wird?
In Echra gibt es keine Lohnarbeit. Wir produzieren
also nicht unter fremdbestimmten Bedingungen fremdbestimmte Dinge - um mit
dem Entgelt daraus unseren Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern wir suchen
mit unserer Tätigkeit unmittelbar unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Alleine
deshalb gibt es in Echra nur sinnvolle Arbeit, deren Intensität und Dauer der
einzelne durch seine Ansprüche bestimmt.
Arbeit, die nicht Lohnarbeit ist oder gar
erzwungenes Schaffen auf Grund von Knechtschaft, wird zum selbstbestimmten
Tätigsein und verliert so den Charakter eines Übels.
Wir unterscheiden daher nicht Arbeit und Freizeit,
grad so wie Ihr euere selbstgewählten Aktivitäten in euerer „Freizeit“ auch
nicht als „Arbeit“ empfindet. Ihr kennt ja den Eifer, mit dem Menschen bei euch
nach Feierabend an ihrem Haus bauen, ihren Garten bestellen und ihren
nützlichen und weniger nützlichen Hobbys nachgehen, wie Handwerker und Künstler
über ihren selbstgestellten Aufgaben oft selbst die Mahlzeiten vergessen...
Arbeit muss also keine Mühsal sein, im Gegenteil.
Tätigsein, etwas Sinnvolles schaffen, eine Aufgabe erfüllen - das zeichnet die
menschliche Art aus und damit definiert sich auch der einzelne Mensch und gibt
seinem Leben zusätzlichen Sinn. Weil also selbstbestimmtes Tätigsein zum
Menschen gehört, können wir uns überhaupt nicht vorstellen, ab einem gewissen
Alter nicht mehr tätig sein zu dürfen. Wenn es unsere Gesundheit erlaubt,
bleiben wir in vielfältiger Weise tätig bis zu unserem Tod.
Tätigsein ist der notwendige Gegenpol zu Entspannung,
zu Muße, zu Schlaf. Mit sinnvoller Arbeit üben wir Körper und Geist und ernten
- neben dem Arbeitsprodukt - Appetit, Müdigkeit, Kraft, Geschicklichkeit und
Selbstbewusstsein. Doch nur sinnvolle und aus freien Stücken ausgeführte Arbeit
macht zufrieden, ausgeglichen und glücklich. Diese Zufriedenheit lässt sich mit
Geld nicht zu kaufen. Ich weiß das aus eigener Erfahrung, denn ich habe viele
Jahre außerhalb Echras Lohnarbeit verrichtet, mich und meine Arbeitskraft für
Geld verkauft und sinnlose Arbeiten ausgeführt und so viele der besten Stunden
meines Lebens vergeudet. Mit dem Geld, für das ich mich wie eine Ware
verkaufte, versuchte ich dann das verlorene Glück in den Kaufhäusern zu kaufen,
was mir aber niemals gelang. Das echranische Tätigsein habe ich dagegen - trotz
der Mühe mancher Verrichtungen – als einen Schlüssel zum irdischen Glück
erfahren.
In Echra gibt es kaum Arbeitsteilung, denn jedes
Spezialistentum ist uns ein Graus. Wir lehnen es ab, die Welt in Scheiben zu
schneiden und jede davon einem Experten zu übertragen. Wie man bei euch sehen
kann, bläst schnell ein Wind alles durcheinander und niemand kann die Teile
mehr zu einem sinnvollen Ganzen ordnen, schon gar keine Experte, denn dieser
hält naturgemäß sein Fachgebiet für den Nabel der Welt, was eine Gesamtsicht
verhindert.
Schwer vorstellbar ist es uns, etwa an einem
Fließband unter Zeitdruck nur wenige Handgriffe auszuführen und das den ganzen
Tag, oft das ganze Leben lang. Dass Maschinen, die dem Menschen ja Hilfe und
Werkzeug sein sollten, nun den Menschen bestimmen, erscheint uns als
Perversion.
Eine schlimme Vorstellung ist es für uns auch an
sonnigen Tagen in muffigen Gebäuden sitzen zu müssen und sich von einer Uhr
bestimmen zu lassen. Wir Echraner stehen dagegen auf, wenn wir ausgeschlafen
haben und legen uns nieder, wenn wir müde sind. Unser Tagesablauf ist am
Sonnentag ausgerichtet. Nur im Winter bringen wir die Tage mit künstlichem
Licht auf ein mittleres Maß.
Auch das ist bei euch ja anders. Die zumeist
sinnlosen Tätigkeiten, von denen ihr euch tagsüber euere Lebenszeit stehlen
lasst, hinterlassen keine Befriedigung, sondern nur Ruhelosigkeit. Darum sucht
ihr den Feierabend möglichst lange auszudehnen, dem Gefühl folgend, dass dies
doch nicht alles gewesen sein kann. Dieses Defizit an Sinngehalt treibt euch in
die Fänge der elektronischen Traumfabriken, der professionellen Zerstreuer und
Zeiträuber. Euer Leben verlagert sich in die Nacht und diese wird entsprechend
zu kurz und der Wecker reißt euch am Morgen viel zu früh aus dem Schlaf. Diese
unheilvolle Kettenreaktion verlangt nach belebenden Drogen und so gesellen
sich zur allgemeinen Frustration bald auch körperliche Leiden.
In Echra gibt es keine Weckmaschinen, wir haben dafür
den Vogelgesang und die Sonne. Uhren und Kalender findet man wohl gelegentlich,
sie sind aber immer Orientierungsmittel und niemals Peitsche. Zeit spielt bei
uns eine andere Rolle - wir haben alle Zeit der Welt zur Verfügung. Hast wird
man höchstens bei der Heuernte erleben, wenn ein Gewitter aufzieht.
Eine gewisse Fremdbestimmung der Arbeit kennen wir
aber auch, denn aus Gründen der Rationalität werden einige Arbeiten in Echra
gemeinsam geleistet, was vom einzelnen gelegentliche Gemeinschaftsdienste verlangt.
Da diese aber jedem einsehbar durch die Notwendigkeit bestimmt sind, gerecht
verteilt werden und gemeinsam rationeller und damit in kürzerer Zeit zu
schaffen sind, halten sich Unlustgefühle in Grenzen. Im Gegenteil freuen sich
viele auf die gemeinschaftlichen Arbeiten, weil sie sich meist als kurzweilige
und fröhliche Angelegenheit erweisen. Dennoch wird auch hier niemand gezwungen
mitzumachen, was dann aber auch Ansprüche auf die Produkte der
Gemeinschaftsarbeit ausschließt. In der Praxis verläuft es meist so, dass die
Dorfbewohner im Frühjahr ihr Interesse an bestimmten gemeinsamen Projekten
anmelden und in der Folge an ihnen auch anteilig mitarbeiten und am Ertrag
teilhaben.
In Echra dürfen nur Dinge hergestellt und gebraucht
werden, die keine irreparablen Schäden in der Biosphäre anrichten und die
wieder in die natürlichen Kreisläufe eingeführt werden können. Wo nur naturverträgliche
Dinge hergestellt werden dürfen, sind natürlich ein Großteil jener Dinge, die
bei euch ohne Rücksicht auf die Folgen im Umlauf sind, nicht zu haben. Euer
gewohnter Warenkatalog schrumpft also ziemlich zusammen. Immerhin - auch wenn
es euch zu glauben schwer fallen mag - es bleibt genug übrig für ein gutes
Leben.
Uns dagegen fällt es schwer zu begreifen, wie man
Lebensqualität mit der Höhe des Bruttosozialproduktes in Zusammenhang bringen
kann und sich von Quantität auf Qualität zu schliessen getraut. Gute Atemluft,
sauberes Trinkwasser, giftfreie Nahrung, Gesundheit, Zufriedenheit usw., also
der Sinngehalt von Waren und der Nutzen für die Menschen, lassen sich mit
Zahlen überhaupt nicht erfassen.
Im Gegenteil weist ein hoher Waren- und
Dienstleistungsumsatz eher auf Defizite hin, die man durch die hohen Leistungen
auszugleichen sucht. Was beweist ein hoher Umsatz der pharmazeutischen
Industrie anderes, als dass es mit der Gesundheit schlecht bestellt ist?
Dasselbe lässt sich aus hohen Umsätzen bei Ärzten und Kliniken ableiten. Aus hohem
Umsatz im Bereich Straßenbau, Autos u.ä. lässt sich ebenso wenig auf
Lebensqualität schließen, denn Autos und Straßen benötigt nur, wer an seinem Wohnort
kein Auskommen findet, dessen Verwandten- und Freundeskreis zersprengt ist und
wer sich in seinem Lebensraum unwohl fühlt und seine Freizeit in fremder und
vielleicht lebenswerterer Umgebung zu verbringen sucht. Die stinkenden und
röhrenden Blechlawinen, die sich durch euere Landschaften quälen und der
naturfressende Straßenbau sind auf keinen Fall ein Hinweis für Lebensqualität.
Doch dieser Wahnsinn bläht das Bruttosozialprodukt auf, grad so wie die
ungezählten Verkehrsunfälle mit ihren zehntausenden von Toten und Verletzen und
dem hohen Sachschaden, was in Wahrheit ja ein großes Unglück ist.
Als drittes Beispiel möchte ich noch die Ausgaben
für den militärischen Bereich nennen, durch die das Bruttosozialprodukt
steigt. Diese gefährliche Verschwendung wird wohl niemand mit Lebensqualität
in Verbindung bringen.
Die Liste der schädlichen Produkte und Leistungen
ließe sich lange fortsetzen. Mit ihnen mittelbar verbunden ist der Bau von
immer neuen Fabriken, Kraftwerken und Atommeilern und die Rohstoff- und Energieverschwendung
inklusive Vergiftung der Umwelt. Die Zunahme von Schäden und deren Behebung
stolz wie eine Trophäe zu präsentieren, ist eine Torheit. Und wie soll man eine
Wirtschaft nennen, die nicht nach Notwendigkeit und Sinn produziert, sondern
von Börsentendenzen und Gewinnerwartungen gesteuert wird?
Wir schmunzeln darüber, dass wir in eueren Augen
als armes Volk gelten, weil wir weder Autos noch Autobahnen besitzen, weder
Flugzeuge noch Flughäfen, keine Atomanlagen, Supermärkte und keine Vernichtungswaffen.
Doch ihr irrt euch, wir sind nicht arm, nur weil wir auf die Dinge verzichten,
die wir nicht benötigen. Wir brauchen keine Autos und keine Flugzeuge, weil
wir uns dort wohlfühlen, wo wir leben. Die Zunahme des Flugverkehrs bei euch
ist vermutlich nur Symptom dafür, dass ihr es auf der Erde nicht mehr
aushaltet, dass ihr für die irdischen Dinge des Lebens blind geworden seid und
euerem Glück nun auch noch über den Wolken hinterher jagt, euch „göttergleich“
über die Erde erhebt. Wie viel Anmaßung liegt schon in dem Umstand, dass ihr
dafür allen Lebewesen den damit verbundenen Höllenlärm zumutet und die Zerstörung
der schützenden Lufthülle unseres Planeten.
Nein, wir Echraner brauchen keine Flugzeuge. Grad
so wenig wie Atommeiler, weil wir unseren Strom dezentral und umweltfreundlich
produzieren und ihn sparsam verwenden. Wir vergeuden ihn weder für die
Herstellung überflüssiger Waren noch für die von Gerätschaften, die zum Töten
bestimmt sind. Letztere braucht nur wer andere einschüchtern will, andere
Länder oder die eigene Bevölkerung.
Trotzdem fällt es euch schwer im echranischen
Leben ein nachahmenswertes Modell zu sehen, denn zu radikal haben wir mit
euerer materialistischen Lebensweise gebrochen. Euer gewohnter Maßstab muss
deswegen versagen, zudem sind euere Sinne durch ständige Reizüberflutung
abgestumpft und euer Gefühl für das Wesentliche vom Warenramsch verkleistert.
Wie sollt ihr echranische Zufriedenheit und Glück erkennen, wenn diese nicht zu
wägen und messen sind? Ja, nicht einmal zu zählen, da es in Echra kein Geld
gibt, weil wir die Wucherei fürchten und die menschliche Neigung zum Sammeln
und Horten.
Die Bodenkultur gilt in Echra als die bedeutsamste
Kultur, ist sie doch Voraussetzung für unser Überleben. Seine Nahrung
anzubauen und dabei die Fruchtbarkeit der Erde zu mehren, ist neben der Förderung
der Kinder der Menschen vornehmste Aufgabe. Gleichzeitig behält der Mensch
dadurch die notwendige Fühlung zur Natur und erlebt das zyklische Werden und
Vergehen, sowie das Zusammenspiel von allem Lebenden. Durch den Landbau erntet
man - neben der Nahrung - eine Fülle weiterer unschätzbarer und nicht
käuflicher Früchte. Die Bewegung im Freien und der Sinngehalt der Tätigkeit
schenken körperliche und geistige Gesundheit und Fitness, Einsicht und
Erkenntnis über die Zusammenhänge des Lebens, Zufriedenheit, Ausgeglichenheit,
herrliche Müdigkeit und Appetit, der auf wunderbare Weise die einfachsten
Speisen schmackhaft macht.
Die aus dem Landbau entstehenden Erkenntnisse und
Haltungen strahlen in den gesamten Lebensbereich aus.
Weil uns diese positiven Wirkungen des Nahrungsanbaues
bewusst sind, gilt es uns auch als folgenschwerer Fehler, den Menschen aus
diesem ihm ureigensten Bereich zu vertreiben und ihm dafür sinnlose und
nervtötende Arbeiten in Fabriken und Büros ausführen zu lassen.
Zugleich hat die Mechanisierung und Chemisierung
der Landwirtschaft zu einem Rattenschwanz von Folgeproblemen geführt. Die
Menschen wurden der Natur entfremdet, die Familien- und Dorfstrukturen zerrissen
und in der Folge das Land mit Verkehrswegen zerschnitten und die landflüchtigen
Menschen in Industriezentren zusammengeballt. Aber auch für das Land waren die
Folgen der Industrialisierung sehr nachteilig. Gedrängt von einem
unerbittlichen Markt, der immer billigere Produkte fordert, wurden die
Agrarflächen maschinengerecht gestaltet und die vormals klein gegliederte Flur
mit ihren artenreichen Rainen und Gehölzen in Agrarsteppen verwandelt, viele
Wildtiere und Pflanzen ausgerottet, das Bodenleben mit Mineraldüngern und
Pflanzengiften zerstört, die Krume durch die Bearbeitung mit schwerem Gerät
verdichtet, der Bodenabtrag durch Wind- und Wassererosion gigantisch gesteigert.
Mit dieser traurigen Entwicklung einher ging der
Verlust der Wertschätzung des Lebendigen, von der Kenntnis von den
Zusammenhängen und vom Zusammenspiel der Natur. Der fruchtbare Erdboden, von
manchen Naturvölkern gleich einer Leben spendenden Mutter verehrt, wurde zum
Produktionsfaktor degradiert. Den Tieren ging es nicht anders. Wildtiere, die
wirtschaftliche Interessen störten, suchte man auszurotten, was oftmals auch
gelang. Geduldet werden nur jene Tiere, deren Verfolgung nicht lohnt oder
denen man einen gewissen Nutzen nicht absprechen kann. Die Tiere, deren Haltung
direkten Gewinn verspricht, wurden zu „Nutzvieh“, zu Waren degradiert, deren
Körper man möglichst schnell zu vermehren, zu vergrößern und zu töten trachtet.
Noch heute werden Schweine, Kälber und Federvieh in höllischer Enge „zur
Schlachtreife gebracht.“ Damit sie diese unter den widernatürlichen
Haltungsbedingungen überhaupt erleben, werden sie bereits mit dem Futter
medikamentiert und ruhig gestellt, damit sie aneinander keine Verletzungen
verursachen und vor der Zeit daran eingehen. Millionenfach müssen Tiere auch
dem faustischen Erkenntnisstreben der Menschen dienen. Tiere werden sogar
gequält und getötet um Waffen, Medikamente und Kosmetika zu erproben.
Wir Echraner empfinden diese bestialische
Behandlung der Tiere als eine Schande für unsere ganze Art. Welch
unglaublicher Hochmut spricht aus dem Umstand, die ganze belebte und unbelebte
Welt nur als Werkzeug für die Wohlfahrt der menschlichen Art zu verstehen!
Natürlich liefert auch hierfür die Religion eine Rechtfertigung dieser Raserei:
„Macht euch die Erde untertan!“, soll ein Gott gesagt haben, wie praktisch!
Aber die daraus abgeleitete Vergewaltung der Natur macht ja auch vor den eigenen
Artgenossen nicht halt
Uns empört, wenn wir hören, dass in den Industrieländern
riesige Nahrungsmengen vernichtet werden, um die Preise hochzuhalten! Uns
empört, wenn wir hören, dass gleichzeitig Futter- und Lebensmittel aus Ländern,
in denen Menschen verhungern, importiert werden, also ein Gutteil der
Überproduktion in der Erde der Armen wächst! Uns empört, dass man in
Hungerländern auf besten Böden Zuckerrohr anbauen läßt, um daraus Äthanol zum
Betrieb von Autos zu erzeugen, Raps, um mit daraus gewonnen Öl Landmaschinen
und Panzer zu betreiben, Tabak, um die Menschen zu vergiften und was es an
Verrücktheiten mehr gibt! Uns empört, dass man das Mehl getrockneter
Tierkadaver an Rinder und Schafe verfüttert, dass Kälbern die Milch
vorenthalten wird und man ersatzweise billige Austauschmixturen verfüttert! Und
uns empört, dass bis zu zehn Kilo Getreide oder Soja an Tiere verfüttert wird,
damit daraus ein Kilo Fleisch wächst!
Nun könntet Ihr sagen, die armen Länder
exportierten ihre Agrargüter ja freiwillig, die Zeiten des Kolonialismus seien
vorbei. Doch dies ist nur dem Schein nach so, denn auch nach dem Abzug der
Kolonialherren haben sich die alten Abhängigkeiten und Besitzverhältnisse nur
wenig geändert. Statt Nahrung für die Bevölkerung anzubauen und die
Großplantagen der Kolonialzeit durch eine Landreform an Kleinbauern zu
verteilen, werden auf den ertragreichsten Flächen Waren für den Export erzeugt:
Tabak, Kaffee, Tee, Kakao, Baumwolle, Sisal, Erdnüsse, Zuckerrohr, Bananen,
Soja usw.
Die Großgrundbesitzer und die Führungsschichten
dieser Länder bauen an, was die reichen Nationen auf dem Weltmarkt nachfragen.
Jene wiederum unterstützen die Machtverhältnisse in diesen Ländern, um sie
weiter ausnutzen zu können. Wenn sie das nicht politisch oder gar militärisch
tun, dann doch wirtschaftlich, indem sie die Waren abnehmen und im Gegenzug
Maschinen- und Luxusgüter liefern, was Abhängigkeiten schafft, die nicht so
augenfällig sind wie Kolonialtruppen, aber genauso wirksam. Erst recht, wenn
auch noch die Waffen geliefert werden, um diese Unrechtsregime am Leben zu
erhalten!
Zudem sind die armen Länder hoch verschuldet, so
dass durch den Schuldendienst ihr Zwang zum Export zementiert wird. Und das
soll keine Form von Kolonialismus sein?
Ich meine, das Beispiel zeigt, dass die Geldwirtschaft
die Menschen versklavt und sich um die natürlichen Lebensgrundlagen nicht
kümmert. Deswegen erscheint uns eine derartige Zivilisation als ein Krebsgeschwür,
das überall seine Metastasen setzt und nach und nach alles gesunde Gewebe
zerstört, es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Erde daran stirbt. Außer das
Geschwür würde begreifen, dass es damit auch selber stirbt, doch Geschwüre
haben keinen Verstand, sie begreifen nichts...
Auch wenn euch meine Argumente überzeugen sollte,
wird es euch zweifellos schwer fallen in unserem einfachen und arbeitsreichen
echranischen Leben einen Ausweg zu sehen. Zu tief sitzen die Vorstellungen
von der mühseligen und stupiden Landarbeit, die ja, wie man euch immer wieder
sagt, durch die Technisierung erst erträglich gemacht worden sei.
Doch das gilt nicht für die echranische Nahrungsproduktion,
die nichts mit der knochenbeugenden Knechtschaft der Landbevölkerung der
Vergangenheit zu tun hat, wo man arbeitsteilig für kargen Lohn fremde Felder
bearbeiten musste. Dies hieß wochenlang Mähen, Hacken, Ackern, Ernten, Dreschen
usw. Beim Selbstversorgerlandbau arbeitet man nicht als Knecht in fremde
Taschen, sondern baut aus freien Stücken an, was man später zu ernten wünscht.
Eine abwechslungsreichere und sinnvollere Tätigkeit gibt es nicht. Kopf und
Hände sind gleichermaßen beteiligt. Bevor eine Tätigkeit langweilig wird, lädt
schon die nächste ein. Der ganze Mensch ist gefordert, nicht nur ein Teil von
ihm.
Die Gedankenlosigkeit im Umgang mit der Erde ist
vermutlich die Konsequenz aus tierischem Erbe und menschlicher Entartung, denn
die Natur hatte es nicht nötig Verantwortungsbereitschaft für einen geographischen
Ort im Instinkt zu verankern. „Abgrasen, Düngen und Weiterziehen“ war gängiges
symbiotisches Prinzip. Doch auch den aus seinem natürlichen Gleis gesprungenen
Menschen konnte die Natur noch viele Jahrtausende verkraften, bis schließlich
die Spuren der explosionsartig sich vermehrenden Menschen zu tief wurden, die
zudem ihre Kraft durch Maschinen vervielfachten. Der Mensch wurde zum
Wüstenmacher, zum Mörder an ungezählten Arten, zum Vergifter von Wasser und
Luft. Sein Verstand reichte zwar aus kurzfristige Ziele zu verfolgen, doch
nicht deren unbeabsichtigte, zeitverzögert einsetzende Folgen zu überschauen,
die zudem den Sinnen oft nicht zugänglich sind. War ein Landstrich ausgebeutet
oder unbewohnbar, zogen die Menschen weiter, die Erde war groß genug.
Heute werden Weiden in den entlegendsten Winkeln
der Erde „abgegrast“, ohne dass sie die Verbraucher jemals selber zu Gesicht zu
bekommen. So entstehen Wüsten, von denen die eigentlichen Wüstenmacher oft gar
nichts ahnen.
Um dieses gedankenlose Treiben zu vermeiden ist es
wohl unumgänglich, dass die Menschen mit der Erde, die sie nährt, unmittelbar
in Beziehung treten und für sie Verantwortung übernehmen. Wir Echraner sind der
Überzeugung, dass diese Erde nur dann eine Zukunft haben kann, wenn sich für
jedes Stück Erde ein Mensch verantwortlich fühlt. Diese Verantwortung wächst
bei den meisten Menschen aber wohl nur dann, wenn sie ein Stück Land auf Gedeih
und Verderb überantwortet bekommen, von dem sie sich und ihre Nachkommen
ernähren müssen, so dass die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit von alleine zur
obersten Maxime wird.
Jede echranische Familie besitzt ein ausreichend
großes Stück Land zur Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln. Die Größe der
Parzellen hängt von der Qualität des Bodens, der Zahl der Familienmitglieder,
den klimatischen Verhältnissen und dem Verhältnis der privaten und der
kommunalen Wirtschaftsflächen ab, die jedes Dorf selbst bestimmt, meist sind es
ein bis zwei Hektar. Dieses Land bleibt auf Dauer im Besitz der Eigentümer und
ihrer Kinder. Sie dürfen es aber nicht veräußern. Wenn sie keine Erben haben,
fällt der Besitz nach ihrem Tode wieder an die Gemeinde.
Die Fläche reicht aus eine Familie mit Gemüse, Kartoffeln
und Obst zu versorgen und um Winterfutter für ein paar Ziegen oder Milchschafe
zu gewinnen, manchmal wird auch ein Pferd oder ein Esel gehalten. Während der
Vegetationszeit werden die Tiere tagsüber auf Gemeinschaftsweiden gehütet,
wobei sich die Dorfmitglieder bei dieser Arbeit reihum abwechseln. Auch der
Getreideanbau wird gemeinschaftlich auf kommunalen Feldern betrieben, wobei
die Flächen oft im Wechsel als Weiden dienen, oder durch überlegte Fruchtfolge
kaum weitere Düngung nötig macht. Für schwere Feldarbeit und für
Transportzwecke hat jedes Dorf auch ein paar Traktoren und andere
Gerätschaften.
Zu jedem Dorf gehört auch ein Brennholzwald mit
schnell wachsenden Gehölzen, der gemeinsam nachhaltig bewirtschaftet wird.
Jedes Jahr wird davon ein Abschnitt geerntet. Durch die Fähigkeit der Bäume
wieder aus den Stümpfen auszutreiben, kann ein Waldstück etwa alle 15 Jahre
abgeholzt werden. Auch der Bedarf an Bauholz kann in einem gemeinschaftlichen
Forst gedeckt werden. Daneben gibt es noch kommunale Sand- u. Lehmgruben und –
je nach geologischer Lage, auch ein Steinbruch. Neben diesen Wirtschaftsflächen
gehört zu jedem Dorf ein Wald, der es umschließt und der nicht bewirtschaftet
wird. Er hat Urwaldcharakter und eine üppige Flora und Fauna, Feuchtflächen und
Moore.
Von diesen Wäldern aus ziehen sich Feldgehölze, von
großen Laubbäumen durchsetzt, netzartig durch die Dorffluren. Gleichsam Adern
das Blut, bringen sie nützliche Wildtiere in jeden Garten. Die Feldhecken,
deren Schönheit und Artenreichtum man gesehen haben muss, dienen zugleich der
Versorgung der Menschen mit Nüssen, Beeren und Kräutern aller Art, zudem sind
sie eine ergiebige Weide für die Bienenvölker, die in beinahe jedem Garten
stehen. In den Hecken bauen Singvögel ihre Nester, leben Igel, Kröten,
Eidechsen und Blindschleichen, die unsere Gärten vor Schädlingsplagen
bewahren.
In der Nähe unserer Wohnhäuser liegen unsere Obstgärten.
Wer Echra im Frühling besucht, sieht unsere Dörfer in einem Blütenmeer
versinken. Ebenso herrlich ist der Herbst, wenn sich die Gehölze unter der
süßen Last der Äpfel, Birnen und Zwetschgen fast bis zum Boden biegen.
Geeignete Früchte lagern wir in Erdkellern ein, andere werden getrocknet, eingekocht
oder zu Most gepresst.
Da wir keine Nahrungsmittel importieren, gibt es
manche Früchte nur zu bestimmten Jahreszeiten. Kein Wunder also, wenn wir im
Sommer und Herbst im Obst schwelgen, haben wir uns doch Monate darauf gefreut.
Über die zeitweise Verknappung zu lamentieren, fällt uns nicht ein, wissen wir
doch, dass durch sie der Genuss an den Früchten umso größer wird. Wer täglich
alles haben kann, freut sich bekanntlich über gar nichts mehr richtig.
Grundsätzlich geben wir der Erde alle pflanzlichen
Reste, die Asche der Feuerstellen und alle tierischen und menschlichen
Ausscheidungen zurück. Gelegentlich streuen wir zusätzlich Gesteinsmehl und
alle paar Jahre ein wenig Kalk, um die Mineralstoffversorgung der Böden zu
sichern.
Diese Düngemaßnahmen und ein geregelter Fruchtwechsel
reichen aus, um reichliche Ernten zu sichern. Übermäßige Schädlingsplagen sind
dank der Sorge um die Nützlinge, des Fruchtwechsels und durch Anbau von
Mischkulturen praktisch unbekannt.
Unsere Gemüsegärten sind meist dreigeteilt. Extra
gedüngt wird immer nur das Drittel, auf dem starkzehrende Pflanzen wie
Kartoffeln, Mais, Kohl, Tomaten oder Kürbisse angebaut werden. Im Folgejahr
werden auf derselben Fläche Wurzelgemüse und Zwiebeln gezogen. Im dritten Jahr
genügt der Nährstoffgehalt immer noch den Bohnen, Erbsen und Linsen, die ja
als Leguminosen über Wurzelbakterien in der Lage sind, sich den Stickstoff aus
der Luft zu holen. Beliebt sind bei uns auch Reihenkulturen, wobei in den
Furchen zwischen den Reihen Mulchmasse wie Gras, Laub und andere organische
Abfälle ausgebreitet werden, was viele Vorteile bringt. So kommt man
beispielsweise auf der Mulchdecke auch bei Regenwetter sauberen Fußes an jede
Pflanze heran. In Trockenzeiten bleibt unter dem Mulch die Erde feucht und
krümelig, so dass nur selten oder gar nicht bewässert werden muss. Unerwünschte
Wildkräuter werden durch die Mulchdecke ebenfalls eingedämmt, so dass bei
dieser Anbaumethode das rückenbeugende Jäten keine große Rolle spielt.
Am wichtigsten ist das Mulchen aber für das Bodenleben.
Schon nach dem halben Sommer ist eine dicke Mulchschicht beinah vollständig zu
Erde geworden, die in Geruch und Aussehen an beste Walderde erinnert.
Wir füttern nicht die Pflanzen - wie man es mit
Kunstdünger macht - sondern das Bodenleben, das sich dadurch prächtig
entwickelt und als Gegenleistung die Nutzpflanzen mit bestem Dauerhumus
versorgt.
Außer beim Umbruch von Grünland werden in Echra die
Böden kaum umgestochen. Wir mulchen die Beete nach der Ernte oder sähen
Gründüngerpflanzen, die schnell den Boden bedecken, im Winter abfrieren und zu
Nahrung für das Bodenleben werden. Im Frühjahr rechen wir den Rest des Mulches
ab und durchziehen die krümelige Erde darunter mit einem Eisenhaken oder einer
abgewinkelten Mistgabel.
Durch das Mulchen verringert sich der Zeitaufwand
für den Nahrungsanbau beträchtlich. Vielleicht hört man deswegen in Echra so
selten jemanden über Gartenarbeit jammern...
Was frische, ungespritzte und natürlich gedüngte
Gartenerzeugnisse wert sind, weiß jeder der sie kennt. Kaufhausware ist immer
einige Tage alt, wegen Transport und Lagergründen zumeist unreif geerntet, nach
den Gesetzen des Marktes erzeugt, was heißt, dass nichts unterlassen wird, was
ein oberflächlich und größenmäßig gefälliges Äußeres fördert. Davon, dass dem
Erzeuger die Gesundheit eines fernen anonymen Konsumenten zumindest
gleichgültig ist, kann ausgegangen werden.
Auf Grund der Wertschätzung allen Lebens essen
viele Echraner keine Tiere. Alleine ihr absichtliches Töten und das Aufbrechen
und Zerteilen ihrer Leichen ist vielen von uns eine schlimme Vorstellung. Ihr
habt dieses grausige Tun einer Berufsgruppe übertragen und mogelt euch so um
das blutige Geschäft herum. Vermutlich würden auch bei euch viele Menschen kein
Fleisch essen, müssten sie die Tiere selber schlachten.
Milch, Butter und Käse werden von den meisten Echranern
dagegen gerne verzehrt, andere lehnen auch dies aus den verschiedensten Gründen
ab, etwa weil die Natur die Milch von Säugetieren kaum für menschlichen
Gebrauch vorgesehen hat, oder weil Milchprodukte eine regelmäßige Nachtzucht
von Jungtieren bedingen, die letztlich in der Mehrzahl geschlachtet werden
müssen. Hier will ich aber auch meine Erfahrung einfließen lassen, dass ich
schon wiederholt jungfräuliche Ziegen durch Anmelken auf Dauer zur Laktation
anregen konnte. In aller Regel genügt aber eine Geburt, um den Milchfluß einige
Jahre zu erhalten.
Unser Körper ist das Ergebnis einer langen
Evolution und so geradezu ein Wunder an Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit.
Unser Körper verträgt nicht nur ein vernünftiges Maß an Belastung, sondern
braucht diese zu seiner Gesunderhaltung. Es wäre ein verhängnisvoller
Fehlschluss, würden sich Menschen in allem schonen, um ja nicht zu
verschleißen. Von schädlichen einseitigen Belastungen abgesehen gilt, dass uns
gerade ständige Übung leistungsstark erhält. Die meisten Krankheiten entstehen
nicht durch den vernünftigen Gebrauch von Kopf und Körper, sondern durch den
Nichtgebrauch. Wer rastet, der rostet! Dieses Sprichwort gilt für die Muskeln,
die bekanntlich unter einem Gipsverband schnell an Masse verlieren, ebenso für
die Gelenke, deren Schäden in den seltensten Fällen von Abnutzung kommen. Es
ist gültig für die Knochen, die Zähne und auch für die Funktionsfähigkeit des
Gehirns. Der Körper baut überall dort Masse und Kompetenz ab, wo sie nicht
gebraucht wird. Wer sich nicht bewegt und belastet, dessen Knochen verlieren
Substanz und damit Festigkeit und Härte. Gleiches gilt für die Zähne, nichts
hält sie so gesund wie reichliches Beissen und Kauen. Die denaturierte
Zivilisationskost entmineralisiert sie zudem durch Säuren von außen und innen.
Unser Körper kann viel leichter einen Mangel von
Speisen verkraften, als ein Zuviel davon, denn er versteht es aus dem
Vorhandenen noch das Letzte herauszuholen. Doch mit Überfluss über längere
Zeit, kann er nicht umgehen und erkrankt.
Auch wenn intellektuelle Leistungsfähigkeit nur
bedingt von der Hirnmasse abhängt, so sollte es doch zu denken geben, dass
Haustiere um etwa ein Drittel weniger Hirn haben als ihre wildlebenden
Artgenossen, weil sie sich um ihr Überleben nicht kümmern müssen. Da sich die
Natur keinen überflüssigen Ballast leistet, baut sie die überflüssige Hirnmasse
ab. Ob beim bequemen, gedankenfaulen Menschen nun auch ein Masseverlust
stattfindet oder nur die Schaltungen und Zugriffsmöglichkeiten „einrosten“ ist
unwesentlich. Die Erfahrung lehrt: Wer sein Gehirn nicht dauernd fordert, wird
geistig träge. Bei alten Menschen, die in Heime kommen und sich um nichts mehr
kümmern müssen, vielleicht auch noch durch ein körperliches Gebrechen in ihren
Kontakten eingeschränkt werden, ist schnell ein deutlicher geistiger Verfall
festzustellen. Nur wer Körper und Kopf ausreichend beschäftigt, hält sich
gesund und leistungsfähig. Man übt seinen Körper auch für den Geist und diesen
für den Körper. Und auch Klugheit wächst nicht auf Sattheit, diese macht nur
träge, nur die Not macht wendig.
Aber dass Gesundheit das Ergebnis körperlichen, seelischen
und sozialen Wohlbefindens ist, weiß man nicht nur in Echra. Wir bemühen uns
aber sehr die Wechselwirkungen von Körper, Seele, Geist und Lebensverhältnissen
zu erkennen, denn letztere schlagen sich körperlich nieder. Der gesunde oder
kranke Mensch wirkt zudem unterschiedlich auf das soziale Umfeld und kann dort
Gleichgewicht oder Störung erzeugen. Die Welt wirkt auf uns und wir wirken auf
sie. Unsere Gedanken und Gefühle, erst recht unsere Worte, können gesund oder
krank machen. Worte können Medizin sein, aber auch die weitreichendsten Waffen,
die es gibt!
Weil dies so ist, sind viele euerer Krankheiten
eine Folge euerer kranken Lebens und Arbeitsbedingungen. Selbst wenn durch
Verbesserung von Hygiene und Ernährung, durch den Einsatz von bakterientötenden
und entzündungshemmenden Arzneien und die technischen Verbesserungen von
Diagnose- und Operationstechniken euere durchschnittliche Lebenserwartung
gestiegen ist, wird doch niemand in diesem Zusammenhang ernsthaft von
Gesundheit sprechen wollen, denn die Menschen sind kränker denn je. Im übrigen
ist die höhere Lebenserwartung vor allem eine Folge der Senkung der
Kindersterblichkeit. Auch wenn viele der alten Seuchen besiegt zu sein
scheinen - die moderne Zivilisation hat für jeden Hydrakopf, den sie
beseitigte, eine Vielzahl neuer erzeugt. Ganze Wirtschaftszweige leben von den
Krankheiten der Menschen und es wäre eine wirtschaftliche Katastrophe könnten
euere Ärzte statt der Krankheitssymptome die Ursachen der Leiden bekämpfen!
Wer sein Haus mit morschen Balken und schlechtem
Mörtel baut, wird damit auf Dauer nicht froh werden. Euerem Automobil würdet
ihr niemals falschen Kraftstoff tanken und dem Motor ungeeignetes Öl zumuten.
Doch auch unser Körper braucht für seinen Aufbau und Unterhalt ebenfalls die
richtigen Stoffe, auch wenn er ein extrem belastbarer Organismus ist, der lange
Zeit Mangelsituationen ausgleichen kann.
Viele Krankheiten werden durch falsche Ernährung
verursacht, bei anderen ist sie beteiligt. Der Beweis dafür: mit dem Vordringen
der Ernährungsgewohnheiten der Industrieländer in andere Kulturkreise, haben
sich dort auch deren Krankheiten verbreitet, oft waren sie zuvor gänzlich
unbekannt.
Die Hauptursache für viele Gebrechen glauben wir in
der gedankenlosen Verarbeitung der Nahrung entdeckt zu haben. Je mehr Nahrung
verändert wird, umso weniger entspricht sie derjenigen, die unsere Art über
Jahrmillionen überleben und gedeihen ließ. Das Nahrungsangebot in den
Industrieländern zeichnet sich vor allem durch die Notwendigkeit der Konservierung
aus, denn Nahrung mußte eine haltbare Handelsware werden, da Erzeuger und
Verbraucher weit auseinander liegen. So wurden immer neue Techniken entwickelt
sie lagerfähig zu machen, wovon Trocknen und Gefrieren die schonendsten sind.
Doch was heute alles in Dosen, Tuben, Beuteln, Schachteln und Flaschen in den
Verkaufsregalen der Supermärkte steht, hat mit Nahrung, wie sie uns angemessen
wäre, kaum mehr etwas zu tun: sterilisiert, homogenisiert, ausgemahlen,
vorgefertigt und mit zahllosen lebensfeindlichen Zutaten geschönt und haltbar
gemacht. Von diesem wertlosem, ja oft schädlichem Zeug müssen die Menschen
leben. Besser leben davon schon eine Vielzahl von Interessengruppen -
angefangen bei den Produzenten, den Verarbeitern und ihrer Zulieferindustrie,
die chemische Industrie, der Lebensmittelhandel, die Transporteure und ihre
Ausstatter, die Energiewirtschaft - schließlich diejenigen, die an den Folgen
der Fehlernährung verdienen: die Pillendreher, Symptomkurierer, Hersteller von
medizinischem Gerät und Prothesen, die Klinikbauer, die Versicherungen und ein
Rattenschwanz von Bürokraten, die den ganzen Irrsinn verwalten.
Diese Zustände sind uns ein abschreckendes
Beispiel. Was ihr euch im Ernährungsbereich so zumutet, sind irrwitzige Massen
versuche direkt an Menschen.
Dabei ist es so einfach, sich gesund zu ernähren.
Die wichtigste Regel ist, die Nahrung möglichst im Naturzustand zu verzehren,
denn nur dann besitzt sie ihren optimalen Wert. Auch hier kann man viel von den
wildlebenden Tieren lernen, denn diese treffen instinktiv die richtige Wahl.
Da keines von ihnen Nahrung mit Feuer behandelt, sollte es der Mensch auch
nicht tun, oder wenigstens nur mit einem Teil seiner Nahrung, denn Kochen und
Braten sind menschliche Erfindungen. Obwohl jeder weiß, dass Hitze Lebendiges
tötet und der Gebrauch des Feuers entwicklungsgeschichtlich betrachtet eine
vergleichsweise junge Fertigkeit ist, wird die Nahrung mit der größten
Selbstverständlichkeit dem Feuer ausgesetzt. Doch mit dem Abtöten der Nahrung
verändert sich auch ihre innere Struktur und damit ihr Gehalt. Schon vor
langer Zeit haben Forscher vor dem Erhitzen gewarnt und dass ausschließlich mit
erhitzter Nahrung gefütterte Tiere erkranken, unfruchtbar werden und
schließlich sterben. Tiere, die rohe Nahrung bekommen, gedeihen dagegen
prächtig. Wir Echraner haben daraus gelernt. Etwa die Hälfte unserer täglichen
Nahrung besteht aus Rohkost, vor allem aus Obst, Nüssen, Blatt- und
Wurzelgemüse und gekeimten Getreide und anderen Samen und aus Milchprodukten
und Eiern. Der erhitzte Anteil besteht aus Getreide, Kartoffeln,
Hülsenfrüchten, gedünstetem Gemüse, aus Brot, und Gebäck. Wir trinken Wasser,
frischen oder vergorenen Fruchtsaft, rohe Milch, auch Bier und Wein. Auch
Brühgetränke wie Kräutertee oder Früchtekaffee sind recht beliebt. Gesüsst
wird, wenn überhaupt, mit Honig. Reiner Zucker wird wegen seiner Gefährlichkeit
in Echra nicht hergestellt, auch mit reinen Fetten gehen wir eher sparsam um.
Ich möchte mich hier nicht in Einzelheiten verlieren,
die Forscher und Lebensreformer schon seit Jahrzehnten predigen. Nur soviel:
Hitze zerstört die Vitalstoffe, verändert das Eiweiß, laugt basisch wirkende
Mineralstoffe aus, so dass die denaturierte Nahrung schließlich den Körper
übersäuert und die Körpersäfte mit der Zeit die Alkalireserven in den Knochen
und Zähnen plündern, was Entmineralisierung bedeutet und Zahnverfall,
Osteoporose und Gelenkschäden. Zuviel Eiweiß und Fett lagert sich in den
Blutgefässen ab, verhärtet und verengt vor allem die feinen Arteriolen und
führt in der Folge zu Herz-Kreislauferkrankungen usw. Wichtig ist die
Erkenntnis, dass es beim Essen nicht auf die Menge ankommt, sondern auf die
Qualität, also auf die Frische und den Vitalstoffgehalt der Nahrung. Die
Energieausbeute, etwa aus einer leichten pflanzlichen Rohkost, ist bedeutend
größer, als etwa aus einem schweren Fleischgericht, für das der Körper oft mehr
Leistung für die Verdauung einsetzen muss, als er herausholt. Eine leichte
frische pflanzliche Speise dagegen belastet den Körper dagegen nicht und
bringt ihm, was er benötigt. Aber dies kann jeder leicht an sich selber
ausprobieren und nicht selten verbessern sich hartnäckige Leiden, manchmal
verschwinden sie sogar völlig.
Unterstreichen will ich noch, dass echranische
Ernährung nichts mit Entbehrung oder Askese zu tun hat. Essen ist uns sehr
wichtig und ich kenne keinen Echraner, der sich nicht als Feinschmecker fühlt.
Bei rohem Obst und Gemüse darf der Mensch nach Herzenslust schlemmen, ohne auf
die Menge achten zu müssen. Sollte dies nicht als Beweis dafür ausreichen, was
die richtige Nahrung für uns Menschen ist?
Da wir in einer gemäßigten Klimazone mit warmen
Sommern und kalten, schneereichen Wintern leben, muss unsere Kleidung diesem
Wechsel entsprechen. Eine Kleidermode, wie ihr sie kennt, gibt es in Echra
nicht, weil niemand von dem dauernden Wechsel von Rocklängen, Kleiderformen und
Farben einen materiellen Vorteil ziehen kann. Unsere Kleidung ist zu allererst
zweckmäßig, vielleicht gerade dadurch auch ästhetisch ansprechend. Extreme
Formen sind die Ausnahme, denn zu enge oder zu weite Kleidung behindert ihren
Träger oder degradiert ihn zum Kleiderständer. Offenbar bilden sich mit der
Zeit von alleine optimale Formen heraus, mit einer gewissen Toleranz nach den
verschiedenen Seiten.
Dennoch gibt es in Echra keine langweilige Einheitskleidung,
denn alles Uniformierte ist uns ein Greuel. Ja, ich behaupte sogar, dass euere
Mode alleine durch die Massenfertigung viel uniformer ist, als die echranische
Bekleidung, die sich zumeist jeder selber anfertigt. So trägt jeder quasi
seine eigene Mode, was zu einer großen Vielfalt an Formen und Farben führt.
Die benötigten Tuche beziehen wir übrigens entweder von unseren Zeitdörfern
oder wir weben sie uns selber.
Wir setzen – nebenbei bemerkt – unsere Haut auch
gerne der frischen Luft und Sonnenlicht aus. Letzteres meiden wir aber zu
Zeiten, wenn sie am höchsten steht. Wir arbeiten lieber in den Vormittags- oder
den späten Nachmittagsstunden im Freien. Die Mittagszeit verbringen wir gerne
faulenzend, lesend oder musizierend im Schatten der Bäume.
Dass sich viele von euch - scheinbar als Ausgleich
für das ganzjährige Eingesperrtsein in Büros und Fabriken - während der
Urlaubswochen in der Sonne regelrecht grillen, ist uns wieder ein Beweis für
die Unnatürlichkeit eurer Denkweise, weil doch selbst der einfältigste Hund
in der Hitze den Schatten aufsucht.
Was euch verweichlichte Stallmenschen frösteln
lässt, wird von abgehärteten Echranern
oft noch als angenehm empfunden, denn die menschliche Haut und das isolierende
Fettgewebe darunter passen sich der jeweiligen Lebensweise an. Wir glauben,
dass dieses dauernde Gefäßtraining unserer Haut auch unserer Gesundheit
förderlich ist. In der kalten Jahreszeit tragen aber auch wir wärmende Kleidung
aus Pflanzenfasern oder Wolle.
Unsere Architektur ist ähnlich individuell und
vielfältig wie unsere Kleidung. In Echra gehört es zu den Grundrechten jedes
Menschen, dass er sein Wohnhaus - das
ja seine dritte Haut ist - nach eigenem
Vorstellungen bauen darf, ohne von einer Behörde gegängelt zu werden.
Wer bei uns großartige Wohnvillen erwartet, wird
enttäuscht sein, denn wir bauen keine Häuser zu Prestigezwecken. Unsere Häuser
sollen uns nur Schutz bieten vor der Glut der Sommersonne, vor Niederschlägen
und vor der Kälte, sie sollen uns geschützte Werkstätte sein und warmes
Schlafnest. Da sich unser Leben überwiegend im Freien abspielt, reichen uns
wenige Räume aus und unser soziales Leben spielt sich sowieso meist in den
dörflichen Gemeinschaftsräumen ab.
Auch wenn sich unsere Wohnhäuser in Form und
Ausgestaltung unterscheiden, so
verbindet sie doch die Verwendung des aus der Umgebung stammenden natürlichen
Baumaterials, was sie alleine schon in die Landschaft integriert. Die
Außenwände sind meist aus Natursteinen, gestampftem Lehm oder Holz. Die Dächer
sind mit Stroh oder Schindeln gedeckt, recht beliebt sind auch Gras oder
Moosdächer. Für Zwischendecke und Dach verwenden wir meist Rundhölzer, die
stabil sind und leicht beschafft werden können, ohne erst eine kraftfressende
Säge durchlaufen zu müssen. Da uns
rechter Winkel und gerade Linie wenig gelten, verwenden wir zum Bauen auch
gerne krumm gewachsene Laubhölzer, worin sich auch unser Streben nach
Funktionalität und möglichst organischen Formen ausdrückt.
Die Fenster der Wohnräume richten wir zur Sonne hin
aus, um möglichst viel davon während des Winterhalbjahres einzufangen. An der
Nordseite schließt dagegen meist Stall und Heuschober an, was sich ebenfalls
günstig auf die Wärmeversorgung auswirkt. Unter den Heuschober liegen zumeist
gemauerte Keller mit gewachsenem Erdboden, in denen Gemüse und Obst frostfrei
gelagert werden können. Das Wurzelgemüse bleibt darin frisch bis zur nächsten
Ernte.
Sehr verbreitet sind bei uns an der Sonnenseite
überdachte Terrassen, etwa wie man sie von amerikanischen Farmhäusern kennt.
Das Dach schützt die dahinter liegende Stube vor der direkten Sommersonne,
während die tiefstehende Wintersonne ungehindert einstrahlen kann. Vom Frühjahr
bis zum Herbst ersetzt die Terrasse die Stube, denn wir leben gerne im Freien.
Die größere Gemeinschaftlichkeit in den
Kooperativen drückt sich auch architektonisch aus, die Häuser reihen sich dort
aneinander und umschließen einen gemeinsamen Park, der den Bewohnern als
sozialer Raum dient. An den Außenseiten liegen die Obst- und Gemüsegärten. An
das Wohngeviert schließt meist ein zweiter Hof mit den Gemeinschafts- und
Wirtschaftsgebäuden an. In den Zeitdörfern gibt es meist noch einen dritten
Hof mit den speziellen Produktionsanlagen.
An Gemeinschaftsgebäuden gibt es in jeder echranischen
Ansiedlung einen Saal für Versammlungen, für Tanz und Unterhaltung, für
kulturelle Veranstaltungen und auch für Spiel und Sport. Die Seele jeden
Dorfes ist wohl seine Bibliothek. Sie wird als Hort menschlichen Geistes von
allen gehütet und rege besucht.
Daneben gibt es noch Räume für Gruppenaktivitäten
und einige, die als Schulungsräume dienen. Auch das Amtszimmer des Koordinators
ist in dem Gemeinschaftskomplex untergebracht.
Besuchern fällt besonders das Fehlen jeglicher
Repräsentationsbauten ins Auge, da sie gewohnt sind an diesen die Bedeutung
einer Kultur zu messen. Doch in Echra gibt es keine Paläste, alles ist
bescheiden und auf die Funktion beschränkt, darin drückt sich gerade unsere
Kultur aus.
Wer aber näher hinsieht wird erkennen, dass die
Gebäude einmalig in Form und Ausführung sind, stabil und gediegen gebaut und in
manchen Details überraschen. Alle verwendeten
Baumaterialien sind massiv und echt, nichts gibt vor mehr zu sein als es
ist. Nichts ist furniert und aufgeblasen, es gibt keine Effekthascherei.
Wir bemühen uns die Gebäude immer auf weniger
fruchtbarem Land zu errichten. Der jeweils abgetragene Humus wird in der Nähe
zu einem fruchtbaren Hügel geformt, um damit bei späterem Abriss eines Hauses
die entstandene Wunde wieder schließen zu können.
Auch wenn es bei uns keine behördliche Bevormundung
beim Bau von Wohnhäusern gibt, so gilt doch der Grundsatz, dass kein Nachbar
durch einen Bau geschädigt werden darf und bei einem späteren Abriß keine
schädlichen Stoffe zurückbleiben dürfen. Auch aus diesem Grund werden nur
natürliche Baustoffe verwendet, die entweder wieder zu Erde werden oder wie
Steine und Glas wiederverwendet werden können. In einem Land der Barfußläufer
wird mit Glas übrigens sehr sorgsam umgegangen und alle Scherben gesammelt und
wieder eingeschmolzen.
Wie schon mehrfach angedeutet, werden in Echra nur
nützliche Dinge hergestellt, die weder in Herstellung noch Gebrauch die
Biosphäre irreversibel schädigen. Rohstoffe, die nicht wieder nachwachsen,
müssen so sparsam wie möglich verwendet werden, damit auch zukünftige
Generationen noch darauf zurückgreifen können. Alle geeigneten Materialien
werden nach ihrem Gebrauch gesammelt und wiederverwertet, z. B. Metalle, Glas
und Papier.
Wir Echraner glauben, dass viel technisches Gerät
unnütz ist und Menschen und Natur mehr schaden als nützen. Oder gibt es eine
Maschine, die uneingeschränkt gelobt werden kann? Jede, auch die friedlichste
und auf den ersten Blick nützlichste, hat einen Rattenschwanz
unbeabsichtigter, schädlicher Nebenwirkungen, oft in Lebensbereichen, die der Mensch in seiner
Kurzsichtigkeit oft lange Zeit gar nicht bemerkt, denn Menschen schlussfolgern
linear, Maschinen wirken exponentiell. Sie greifen nicht nur in der gewünschten
Weise für den gewünschten Zweck in die Welt und ihre Abläufe ein, sie zerstören
schon, bevor sie überhaupt den beabsichtigten Nutzen erzeugen und selbst der
ist, wie die Erfahrung zeigt, auf lange Sicht - zumal, wenn man den Wert für
das Leben insgesamt betrachtet - unnütz oder schädlich. Die Maschinen, ersonnen
die Menschen von Mühsal zu befreien, haben nicht größere Freiheit, sondern mehr
Abhängigkeit gemacht.
Mir ist bekannt, dass in euerer Zivilisation
geglaubt wird, nur neue, intelligentere Technik könne die Wunden
heilen, die durch die alte zerstörerische Technik gerissen worden sind. Wir
Echraner sind nicht dieser Ansicht, denn die Wunden der Natur kann nur die Natur
selber heilen. Was nicht bedeutet, dass man euere Atommeiler und euere
Massenvernichtungswaffen einfach sich selbst überlassen darf und warten, dass
Gras darüber wächst. Doch wer hofft, dass jene klügere Technik, die man als
Ersatz ersinnt, nicht auf eine irgendeine Art neuen Schaden erzeugt, erst recht
in einer Welt, in der das Geld regiert, ist wohl ein Träumer.
Die Technik macht auch vor der Seele nicht halt,
wer mit Maschinen lebt, bekommt ein Maschinenherz, sagt eine uralte östliche
Weisheit.
Damit kein falscher Eindruck entsteht - auch bei
uns in Echra gibt es technisches Gerät. Wir haben Kooperativen die Metalle
erzeugen und verarbeiten, Glas schmelzen, Werkzeuge, Getreidemühlen, Fahrräder,
Solaranlagen usw. herstellen. Andere produzieren Papier, Tuche, Farben,
Musikinstrumente, Bücher und andere notwendige Dinge. Doch im Unterschied zu
euerer Zivilisation stellen wir nur soviel her, wie benötigt wird, die
Produktion ist uns kein Selbstzweck. Da wir sehr auf die Langlebigkeit der
Güter achten und pfleglich damit umgehen, wird auch nur selten Ersatz fällig,
denn jede Art von Verschwendung ist uns zuwider. Wir sagen, der Mensch darf nur
zwei Dinge verschwenden und dies maßlos: Liebe und Phantasie!
Frage: „Noch ein Utopia. Gibt es nicht schon
genug?“
Antwort: „Oskar Wilde schrieb, es lohne sich nicht
einen Atlas aufzuschlagen, in dem Utopia nicht eingezeichnet sei.“
Echra ist ein Utopia, aber ein sehr bescheidenes,
was es von anderen Entwürfen schon einmal grundlegend unterscheidet: Echra ist
kein Schlaraffenland, sondern eine kleinbäuerliche Selbstversorgergesellschaft,
in der viel Schweiß fließt und die dicht an der Grenze zur Ärmlichkeit angesiedelt
ist, für viele also eine schlimme Vorstellung. Echra stößt Linke, Liberale und
Konservative gleichermaßen vor den Kopf. Die einen, weil sie von einem
Luxusleben für alle träumen, die anderen, weil sie von einem Luxusleben für
wenige träumen und die Rechten sowieso, weil sie mit echranischer
Freisinnigkeit, mit Religionslosigkeit und der gleichzeitig urchristlichen
Verteufelung des Mammons, sich überhaupt nicht anfreunden können.
Prächtige Voraussetzungen also, von allen Lagern
verlacht zu werden...
Frage: „Gibt es in Echra Askese?“
Antwort: „ Grundsätzlich ist uns nichts tabu, was
das Leben lebenswerter macht, was die Lust an etwas erhöht. Wenn man mit Fasten
seinem Körper etwas Gutes tun kann, sich selber beherrschen lernt oder die
Freude am Essen, an einfachen Speisen, steigern kann, dann ist Fasten eine gute
Sache. Quält sich jemand damit, um einem imaginären Wesen gefallen zu wollen
oder sich selbst oder seine Umgebung zu bestrafen, riskiert er damit gar Leben
und Gesundheit, dann lehnen wir das ab.
Für Meditationen, Yoga, Sport usw. gilt ähnliches.
Sie sind wunderbare Mittel das Leben durch Konzentration, Kontemplation,
Beherrschung von Körper und Geist reicher zu machen. Doch gibt es auch hier
eine Grenze, wo ein Zuviel oder eine zu große Verbissenheit Schaden
verursacht. So ist Sport beispielsweise eine herrliche Beschäftigung, die
Körper und Geist gesund erhält, Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit fördert
und durch gemeinsames Spiel die Beziehungen zwischen den Menschen verbessert.
Einen verbissenen Wettbewerb daraus zu machen und nur nach immer höherer
Leistung und Sieg über andere zu streben, wäre aber wenig echranisch.
Auch wer sich dem Leben durch ein Übermaß von meditativer
Versenkung entfremdet, handelt unvernünftig, denn Meditation und Yoga sollten
immer Werkzeug zum Leben sein und nicht das Leben beherrschen.
Frage: „Echraner gehören keiner Kirche an, ja,
sie glauben wohl nicht einmal an Gott. Kann es aber ohne Religion überhaupt
eine Moral geben, ein Gut und Böse geben? Führt ein Leben ohne Gott nicht
zwangsläufig zu einem Dschungelsystem, in dem sich der Stärkere durchsetzt?“
Antwort: „Kirche sind Institutionen die vorgeben
zwischen den Menschen und Gott zu stehen. Sie behaupten gerne, dass es ohne
ihre Lehre den Menschen an Orientierung fehlen würde. Ihre Dogmen und das Predigen
göttlicher Gebote mache die Heiden sittlicher, nicht zuletzt durch die
Androhung eines jenseitigen Gerichtes. Wer sich die aber die Welt betrachtet
sieht, dass zweitausend Jahre Christentum die Menschen nicht besser gemacht
haben, im Gegenteil! In keinen anderen Kulturkreisen gibt es soviel
Gegeneinander und Machtgier. Die Amtskirche hat die ursprüngliche Lehre
mißbraucht und sich zum Werkzeug der wirtschaftlich Mächtigen gemacht. Dieser
unselige Pakt zieht eine blutige Spur der Verwüstung durch die Jahrhunderte,
ungezählte Kulturen wurden zerschlagen, Andersdenkende als Ketzer verbrannt,
die Erde im biblischen Auftrag „untertan gemacht“. Der gegenwärtige Zustand
der Erde sollte eigentlich als Antwort ausreichen.
Ob Echraner an Gott oder Götter glauben, das geht
nur sie selber etwas an. Unsere Toleranz in diesen Dingen ist zweifellos nicht
ungefährlich, denn eigentlich darf man Religionen gegenüber nicht tolerant
sein, denn sie sind es auch nicht, wie die Geschichte von Juden- und
Christentum und vom Islam zeigen. Sobald ein Mensch einer Religion verfällt,
ist er ihren Dogmen verpflichtet und für eine aufgeklärte Gemeinschaft
verloren. Toleranz, Freiheit und Religion schließen sich zwangsläufig aus, auch
wenn etwa das Christentum gerne mit diesen Begriffen hausieren geht, doch jede
Freiheit und jede Toleranz wurde der Kirche erst in blutigen Kämpfen
abgetrotzt.
Da wir Echraner uns aber bemühen, aus allem was
Menschen gedacht und geschaffen haben, das Gute und Brauchbare herauszuklauben,
so gilt das auch für die Religionen. Und so finden sich etwa christliche
Grundeinsichten auch in der echranischen Ethik wieder. Doch wären sie dort
auch gelandet, wenn es das Christentum nicht gäbe, denn seine Ethik ist ja auch
nur aus älteren Philosophien und Religionen zusammengeklaubt. Bis auf die
Feindesliebe. Doch nichts findet sich in der Geschichte der Christenheit
weniger als sie....
Frage: Eine arbeitsteilige Gesellschaft war und
ist die Bedingung für jeden Fortschritt. Mit der weitgehenden Aufkündigung der
Arbeitsteilung sind die Echraner auf den Entwicklungsstand der Vorzeit
zurückgekehrt, das kann doch wohl nur ein Witz sein!
Antwort: Keine andere Lebensweise fordert und fördert
den Menschen mehr, als wenn er in möglichst vielen Lebensbereichen zu Hause ist
und sich seine Bedürfnisse selbst zu befriedigen lernt, nichts schenkt größere
Befriedigung und Unabhängigkeit.
Der Philosoph Karl Marx glaubte alleine die Vergesellschaftung
der Produktionsmittel würde die Entfremdung aufheben und die Menschen
glücklich machen, doch in den großen sozialistischen Massenexperimenten wurde
das Gegenteil bewiesen. Der Mensch braucht zu seinem Glück die Möglichkeit, es
sich selber zu schmieden. Die Abschaffung des Eigentums war ein großer Irrtum,
der Mensch braucht zu seinem Wohlbefinden das für ihn Nötige und das größte
Glück ist es für ihn, es sich selber eigenverantwortlich schaffen zu können.
Frage: Ein kollektives Vernünftigwerden ist bei
uns verführbaren Menschen doch absolut unwahrscheinlich, da wachsen uns doch
eher Flügel oder Schwimmhäute! Was Sie den Echranern an Qualitäten andichten,
haben bislang nur einzelne Weise geschafft und auch diese nur zeitweise, in
aller Regel nach dem Beschreiten ernüchternder Irrwege. Menschen werden nur
durch Schaden klug, und auch diese Klugheit ist zumeist nicht von Dauer. Echra
ist daher nicht möglich und - von der Naturverträglichkeit abgesehen - auch
nicht wünschenswert. Ist es nicht die Beschränktheit der Mitmenschen, die uns
klug macht? Ihre zerstörerische Gier, die uns bescheiden macht? Ihr Unglück,
das unser Nichtunglück als Glück erscheinen lässt? Man stelle sich das nur
einmal vor: ein ganzes Land voller Individualisten, Menschenfreunde,
Naturliebhaber, Lebenskünstler! Grauenhaft! Wollen Sie dazu noch etwas
anmerken?
Antwort: Nein.
Seit ich mein Utopia vor zwanzig Jahren gedanklich
zu entwickeln begann, hat sich die Welt weiter zum Negativen hin verändert. Was
früher Kolonialismus und Imperialismus hieß, heißt nun schönrednerisch
Globalisierung. Nicht die entlegendsten Ecken der Erde sind heute mehr vor der
industrieellen Barbarei sicher. Wie eine Krankheit befällt der westliche
Materialismus alle Kulturen und zerstört immer mehr die gewachsenen Eigenheiten
der Völker. Doch auch die Gegenbewegung gegen diese schleichende kulturelle
Vergewaltigung in Form von religiösem Fanatismus und Terror ist alles andere
als ein Fortschritt für diese Erde.
Trotz einer Erdbevölkerung von mittlerweile 6
Milliarden Menschen wird weiterhin die Automatisierung vorangetrieben, immer
mehr wird mit immer weniger Menschen produziert, selbst in den ärmsten Ländern
der Erde. Die Arbeitslosigkeit steigt weltweit, ebenso die Landflucht. Der
Reichtum hat sich in noch weniger Händen konzentriert und die Armut nimmt zu,
auch in den reichen Ländern.
Das Artensterben in Flora und Fauna geht ungebremst
weiter. Trotzdem wir mittlerweile schon einen furchtbaren atomaren Gau erlebt
haben, werden immer noch Atommeiler gebaut, obwohl noch immer keiner weiß, wie
der strahlende Abfall entsorgt werden könnte. Naturkatastrophen haben an
Häufigkeit und Heftigkeit zugenommen, Klimaveränderungen sind Realität
geworden.
Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten
ist auch ein Stück Hoffnung auf eine gerechtere Welt verloren gegangen. Durch
das Wegfallen dieser Konkurrenz hat es der Kapitalismus auch nicht mehr nötig
sozial zu tun, immer häufiger zeigt er wieder offen seine Raubtierfratze. Und
doch sind die sozialistischen Experimente vor allem an ihren inneren
Widersprüchen und ihren kleinkarierten und/ oder unmenschlichen Führern
gescheitert. War die Hoffnung vieler denkender Menschen Anfang der achtziger
Jahre danach einmal grün, so läuft einem heute die Gänsehaut, wenn man sieht, was
daraus geworden ist. Nichts hat dieses Gedankengut mehr neutralisiert, als es
zu Partei- und Regierungspolitik zu machen.
Als gute Nachricht kann man das Ausbleiben des
atomaren Overkills werten, doch unverändert tickt die Zeitbombe des nuklearen
Schrottes und noch immer stehen Unmengen von Atomsprengköpfen startbereit in
ihren Silos.
Diese unvollständige Schilderung möge belegen, dass
die Welt eine Echranisierung weiter dringend nötig hat… Doch die gescheiterten
Experimente der bisherigen Weltverbesserer machen wenig Hoffnung, denn die
Bestrebung ist das eine, die Wirklichkeit eine andere und nicht selten werden
die best gemeintesten Vorgaben zu Horrorszenarien.
Bleibt also nur, die Welt treiben zu lassen und zu
hoffen, dass sich Schlechtes immer wieder von alleine zum Guten wandelt und
nicht zuviel gut gemeintes zum Schlechten. Sich selber sollte man aber nicht
treiben lassen und sich jeden Tag aufs Neue um Lebenskunst bemühen und prüfen,
welche Teile des Alltags sich echranisieren lassen…