Vom Leben der Echraner


Vorwort zur Überarbeitung 2001

Vorwort zur Überarbeitung 1993

Vorwort zur ersten Veröffentlichung von 1987

Der Wanderer erzählt

Echranische Weltsicht

Von der Religion

Lebenskunst

Von der Natur des Menschen

Über unsere Kinder

Über Erziehung und Lernen

Über das Zusammenleben

Über Partnerschaft und Sexualität

Vom Sterben

Über echranische Demokratie

Rechtsprechung

Von unserer Freiheit

Über die Arbeit

Vom Landbau

Über Gesundheit

Von der Ernährung

Von der Kleidung

Vom Wohnen

Von echranischer Technik

Fragen zum echranischen Leben

Nachwort

Vorwort zur Überarbeitung 2001

Letzte Hand an eine Schrift zu legen, heißt nach Lichtenberg, sie ins Feuer zu werfen. Nun, soweit bin ich noch nicht mit meinen Echranern, doch einiger Idealismus der ersten Entwürfe ist mir schon abhan­den gekommen. Vor allem hinsichtlich der Lehren, die ich aus der Tierwelt zu erlangen hoffte. Mittler­weile habe ich jahrelange praktische Erfahrungen mit Hühnern, Gänsen, Hunden, Katzen, Schafen, Ziegen und Pferden und ich habe bei ihnen dieselben Unzulänglichkeiten gefunden wie bei uns Menschen: Gier und Streben nach Vormacht und Überlegenheit, Faulheit und absolute Unfähigkeit zu Rücksichtnah­me. Daneben auch das Ausstoßen und Quälen von Schwächeren und Fremden, der Reiz des fremden Fut­tertroges, das Abkoten in der fremden Stallecke, die Unfähigkeit mit einem Überangebot von Futter umge­hen zu können, das Fehlen jeglicher Vorausplanung und Verantwortung. Dies lässt nur den Schluss zu, dass das beklagte menschliche Verhalten das natürli­che ist und das altruistische und uneigennützige, alles was wir gerne als „edel“ bezeichnen, das unnatürliche, das künstliche, das man im Tierreich nirgendwo findet, es sei denn während der Brutpflege.

Auch unser oft beklagtes Herdentum hat die tiefsten Wurzeln, denn keine größere Angst gibt es, als die al­lein sein zu müssen, ausgestossen zu sein, nicht anerkannt zu werden, keinen Platz zu haben im sozialen Gefüge. Ver­lassenheitsängste sind das elementarste, nichts kann uns mehr vernichten. Um nicht allein sein zu müssen nehmen Tiere beinah alles auf sich. Nur um bei ihresgleichen sein zu dürfen, lassen sie sich beißen, stoßen, picken und treten.

 

Bei den Tieren lassen sich also nur schwerlich die er­hofften Schaltmuster ablesen, sondern nur solche, die unseren Animalismus bestätigen. Da sich das beklagte Verhalten aber im Laufe der Entwicklungsgeschichte bewährt hat, da es bei Erfolglo­sigkeit zum Aussterben geführt hätte, sollten wir uns fragen, wie weit wir uns davon überhaupt entfernen dürfen. Doch das Überleben der Art ist bei Theisten, Moralisten und humanen Träumern heute kein The­ma. Alleine das Menschengemachte, einfältig und kompliziert, meistens beides zugleich, hat für sie Ge­wicht. Sie nennen die Tiere dumm und übersehen, dass sie damit die Natur dumm nennen, was ja ziem­lich lächerlich ist.

 

Vorwort zur Überarbeitung 1993

Wir Menschen der Industriekultur sind aus Gedanken­losigkeit und ständigem Habenwollen dabei, die Le­bensgrundlagen unserer Gattung, ja, vielleicht die al­len Lebens zu zerstören. Unser Wirtschaften und die Erzeugnisse daraus haben sich verselbständigt, wir ha­ben nicht mehr sie im Griff, sondern sie uns. Selbst wenn der unwahrscheinliche Fall eintreten sollte, dass die Menschen weltweit ihr Wirtschaften den natürli­chen Kreisläufen anpassten, werden die zeitverzögert einsetzenden Folgen der Vergiftung von Luft, Wasser und Erde auszuhalten sein. Und doch sollten wir die Chance, die wir vielleicht noch haben, nutzen. Viel­leicht schafft es die Natur auf irgendeine Weise - wie schon so oft - die Folgen unserer Unmäßigkeit zu kompensieren. Doch wie sollen wir es anders machen? Wie muss eine Zivilisation aussehen, die menschen­würdig und naturverträglich wirtschaftet? Welche ethischen Grundlagen muss sie haben? Seit über zwanzig Jahren dreht sich mein Denken um die­ses Problem, träume ich von einer „Arche“, die uns nicht nur retten, sondern auch zufriedener machen kann. Nebenbei - der Begriff „Echra“ ist nur eine Um­kehrung des Wortes „Arche“, eine Wortspielerei, nicht mehr. Auf meinem persönlichen Weg „nach Echra“ habe ich mich unzählige Male verirrt, immer wieder aber auch wunderbare Entdeckungen gemacht, die wichtigste: Ein vernünftiges Leben hat nichts mit Ent­behrung zu tun und nichts mit mangelnder Lebens­freude. Ein „echranisches Leben“ schenkt einem sogar ein mehr an Lebensqualität, ich spreche hier aus eige­ner Erfahrung. Dies ist es auch, was mich hoffen lässt. Hätte ich Entbehrung und Askese anzubieten, würde ich längst meine letzte Hoffnung begraben, denn hier­von mag keiner etwas hören. Ich habe aber „lustvolle Mäßigkeit“ im Angebot und die Tatsache, dass sich für Glimmer und Warenramsch echte Lebensfreude eintauschen lässt.

Nun ist diese Erkenntnis nicht neu. Als Autodidakt in Sachen Lebenskunst stieß ich kürzlich auf den Griechen Epikur, der schon vor 2400 Jahren predigte: Es ist nicht möglich lustvoll zu leben, ohne vernunft­gemäß, schön und gerecht zu leben!

 

Doch haben wir noch die Zeit, damit dies alle sechs Milliarden Menschen begreifen? Dass sie sich der reli­giösen, wirtschaftlichen und technischen Ketten entle­digen, über ihre Irrlehren lachen lernen? Ihre Unwis­senheit, ihre Technikgläubigkeit, ihren Nationalismus, ihre Hortsucht und ihren Fatalismus überwinden, ja, dass sie dies alles überhaupt wollen?

Ein Funke kann zwar ein Feuer entfachen, wenn eine Reihe von begünstigenden Umständen zusammentref­fen. Doch es scheint, eher brennt alles andere, bevor sich die Völker für eine vernünftige Mäßigkeit entzün­den. Verstrickt in einen Alltag mit hundert Problemen und Abhängigkeiten, benebelt von Illusionen und um­flutet von heftigen künstlichen Reizen, hangeln sie sich von einem Tag zum anderen. Diffuse Gefahren, die irgendwo in der Zukunft lauern, interessieren sie einfach nicht. Menschen scheinen mit den Folgen ihres Tuns einfach überfordert zu sein.

Und doch habe ich einen Rest Hoffnung. Wenn ich es selber habe begreifen können, um was es geht, warum sollte es dann nicht auch jeder andere Mensch begrei­fen? Schließlich haben wir in unseren Köpfen nicht nur Verrücktheiten, sondern fühlen in gelegentlichen Sternstunden genau, was uns gut tut und wie alles ei­gentlich sein sollte.

Ich habe versucht dieses Fühlen in Worte zu fassen, was natürlich ein heilloses Unterfangen ist. Deswegen sollte man alles auch nicht zu wörtlich nehmen und lieber nach eigenen Gefühlen forschen. Alleine dies, wenn meine Schrift anregen könnte, wäre mehr, als ich zu hoffen wage.

Falls meine Überlegungen ernst genommen werden sollten, was wenig wahrscheinlich ist, werden haufenweise Kriti­ker allen Couleurs auftauchen. Neben solchen, die ihre wirtschaftlichen Interessen bedroht sehen, werden es aber auch solche sein, die es als idealistisches Ge­schreibsel abtun, weil die Hoffnung auf ein kollektives Vernünftigwerden im echranischen Maße wegen struktureller Mängel der menschlichen Art unreali­stisch ist, dass es immer nur einzelne „Weise“ waren, die es schafften, Teile ihres Lebens einigermaßen vernünftig zu verbringen. Nun, nach zwanzigjähriger Praxis als Pädagoge und Leiter von sozialen Einrichtungen brauche ich diese Belehrung nicht, der Mühlstein aus leidvollen Erfahrungen im Umgang mit Menschen an meinem Halse ist schwer genug. Und doch brachte das Zusammenleben mit etwa 4000 Jugendlichen auch genug „echranisches“ an den Tag, noch mehr aber „potentiell echranisches“. Ich glaube nach wie vor an uns und sehe unsere Unzulänglichkeiten nur als Spiegelbild der Unzulänglichkeiten der Gegebenheiten, in denen wir leben.

 

Vorwort zur ersten Veröffentlichung von 1987

Wer nach Echra will, braucht keine Berge von süßem Brei durchbeißen, ebenso wenig findet er das Land vor oder hinter Weihnachten.

Echra ist ein Utopia, aber keines, bei dem die Men­schen der Zukunft durch die Luft schweben, auf Raumstationen picknicken oder unter Wasser in Acrylblasen flanieren und auch kein Schlaraffenland, in dem einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Echra ist dagegen eine ganz be­scheidene Sache. Es ist ein Land in dem die Menschen friedlich zusammenleben und auf jene Dinge verzich­ten, die von der Natur auf Dauer nicht verkraftet wer­den können.

Echra ist aber kein Hirngespinst. Echranische Teil­chen findet man überall, sogar zwischen kalten Häu­serschluchten, inmitten Maschinengeratter und him­melschreiendem Unrecht. Echranisches findet man in jeder Pflanze, jedem Tier, ja eigentlich in allem, was unsere verrückte Zivilisation noch nicht zerstört hat.

Echra spiegelt sich in der Freude und Unbefangenheit der kleinen Kinder, die noch nicht verdorben, blind und abgestumpft sind. Echranisch geht es zu, wenn sich Menschen lieben, einander zuhören, gegenseitig achten, miteinander ohne Berechnung sprechen; wenn sie sich am Leben erfreuen, wenn sie mit ihren Kin­dern spielen, wenn sie musizieren, malen, formen, le­sen usw.

 

Doch Echra ist wie ein Puzzle, dessen Teilchen ein launischer Wind durcheinander geblasen hat und des­sen Vorlage verloren ging.

Ich habe mich dennoch an das Puzzle gewagt, weil ich immer wieder Bruchstücke für mein eigenes Leben sinnvoll zusammenfügen konnte. Manche Teilchen habe ich auch bereits verbunden gefunden. In „mein Echra“ nahm ich sie aber erst nach eigener Prüfung auf.

Viele Puzzleteilchen habe ich trotz angestrengter Su­che nirgends gefunden und durch meine Vorstellungs­kraft ersetzen müssen, was naturgemäß die schwäch­sten Stellen des Buches sein müssen.

Dem flüchtigen Leser mögen die Echraner wie roman­tische Hinterwäldler erscheinen und ich, der von ih­nen erzählt, wie ein Träumer. Doch wer ist mehr Rea­list: Wer so tut, als sei diese Erde unendlich belastbar oder wer nach einer Lebensweise sucht, die von der Natur ertragen werden kann?

 

Mir klingen im voraus schon die Ohren vom Gelächter der Maschinenanbeter, weil die Echraner auf viele technische Dinge verzichten, die sie für ein gutes Leben entbehr­lich halten oder bei denen der Schaden den Nutzen überwiegt. Dass ein plötzlicher Verzicht auf viele unserer Gerätschaften völlig unrealistisch ist und auch unsinnig wäre, weiß ich auch. Meine Schrift will alleine Denkanstösse geben und mitteilen: „Dies und das funktioniert, ich habs ausprobiert!“  Eine Gebrauchsanweisung oder eine Ideologie für den Umbau der Industriegesellschaft liefern, hatte ich niemals im Sinn und das wäre auch vollkommen vermessen. Eine solche Entwicklung müssen die betroffenen Menschen selber probieren, sukzessive über einen langen Zeitraum und ohne ideologische Scheuklappen.

Wer das heutige kopflose Treiben mit „Fortschritt“ gleichsetzt, wird im echranischen Leben einen Rückschritt sehen und den Bericht als nostalgische Träumerei abtun. Doch Echra hat mit der „guten alten Zeit“ (die bekanntlich so gut niemals war) nur wenig zu tun. Die Echraner versuchen das Bewährte aller Epochen in ihren Kulturentwurf einzu­bauen. In ihren „Entwurf“ wohlgemerkt, den es zu entwickeln gilt. Also nochmal: Ein Entwurf, kein Plan und erst recht keine Ideologie!

 

 

 



1.       Teil

Der Wanderer erzählt

 

Auf meinem Weg vom Hochgebirge kam ich an eine Waldwiese, wo ich einen alten Mann traf, der eine Mauer aus Feldsteinen aufschichtete. In seiner Nähe zupften zwei Ziegen an Gebüsch. Ich grüßte den Alten und sprach mit ihm über die Wolken am Himmel, dann über das Land und die Ziegen und - es hatte angefangen zu regnen - schließlich über den Wert eines dichten Daches und eines trockenen Strohlagers. „Weiß der Teufel“, sagte der Alte, als wir uns an den Stamm einer mächtigen Fichte lagerten, deren Krone alle Nässe abhielt, „warum ich mit dir soviel rede, denn eigentlich habe ich mir das viele Reden schon lange abgewöhnt. Alleine mit mir rede ich öfter, doch es ist mehr ein lautes Denken. Und es denkt sich wieder klarer, wenn man ab und zu ausspricht, was man sich so den ganzen Tag zusammenreimt.“

Die Erinnerung an seine Selbstgespräche schien den Alten zu amüsieren, denn während er sprach liefen ihm tiefe Lachfalten von den Augenwinkeln über die wettergegerbten Wangen. Dabei kraulte er eine Ziege hinter den Hörnern, die sich neben ihm niedergelegt und wiederzukäuen begonnen hatte. „Sie sind unsere Ernährer“, sagte er. „Und sie ernähren uns gut, ihre Milch ist köstlich und der Käse daraus eine Leckerei. Ich habe schon Kühe und Schafe gehalten und bin bei den Ziegen gelandet, denn sie sind erstaunlich kluge Tiere und ihr eigenwilliger Charakter gefällt mir. Wer Hunde mag, zu dem passen auch Schafe, wer Katzen mag, der wird eher mit Ziegen zurechtkommen, denn beide Tierarten lassen sich kaum erziehen.“ 

Unsere Blicke trafen sich. „Ich weiß wenig von Tieren, über Ziegen habe ich noch nie nachgedacht“, sagte ich. „Doch ich weiß, Tiere sind perfekt, wenn sie von den Menschen nicht verdorben wurden. Sie sind wie sie sind, man kann ihnen deshalb nichts verargen.“

 

„Dazu bedarf es aber wohl der Weisheit und der Geduld eines Gottes“, lachte der Alte. „Tiere sind wie sie sind, das ist wohl wahr. Sie denken nicht voraus und wohl auch nicht zurück, vermutlich denken sie überhaupt nicht. Nach menschlichem Moralbegriff sind Tiere schlecht, denn sie sind gefrässig und egoistisch. Auch die menschliche Hand suchen sie nur, wenn sie oft genug Futter drin gefunden haben.“ 

 

Womit er wohl auch recht hatte, ich aber nicht weniger. Wir schwiegen eine Weile. Dann sagte der Alte, es fiele ihm auf, dass ich auch schweigen könne. Seine Erfahrung mit Stadtleuten - und mich hielt er für einen solchen - habe ihm oft gezeigt, dass diese keine Sprechpausen ertragen können und deswegen ununterbrochen reden. Dies geschehe wohl aus Höflichkeit oder Unsicherheit, was ihn das Geschwätz aber nicht weniger leicht ertragen lasse. Er schweige gerne und schätze es, wenn dies auch ein anderer kann. Ich lächelte und freute mich über das Lob.

 

Mittlerweile hatte es aufgehört zu regnen und die Sonne strahlte wieder von einem tiefblauen Himmel, die dunkle Wolkenwand war weitergezogen. Wir verließen unseren Unterstand und der Alte räumte verschiedene Werkzeuge zusammen. „Es ist heute schon zu spät, um noch weiter zu arbeiten, na ja, und auch zu naß.“

 

Dann fragte er mich nach meinem weiteren Weg und ich sagte ihm, dass ich ohne festes Ziel loszog, um hinter den nächsten Berg zu sehen, und hinter diesem immer neue Berge gekommen seien, bis ich schließlich an den gegenwärtigen Ort kam.

„Nun überlege ich in dieses Tal hinabzusteigen, das mir ein recht freundliches zu sein scheint, denn die Hänge sind weiß von blühenden Obstgehölzen und der Talgrund scheint saftige Weiden zu haben. Sicher kann ich da meinen Mundvorrat auffüllen und vielleicht findet sich für mich auch ein Heuschober für die Nacht.“

 

Der Alte freute sich über das, was ich über sein Tal bemerkte und sagte, auch er freue sich über das Blühen überall und die Bewohner des Tals seien wirklich recht freundlich, wenn man sie mit den Bewohnern anderer Täler vergleiche. Er selber sei zwar schon lange nicht mehr aus seinem Tal hinausgekommen, aber Berichte über die Verrücktheiten und die Bosheiten aus anderen Tälern habe er genug gehört. Ich hätte recht, wenn ich von den satten Weiden auf den Charakter der Bewohner schlösse, auch wenn es nicht so sei, dass Fülle immer nur Freundlichkeit schaffe. Vom Überfluß wisse man, dass er die einen faul und gleichgültig macht und die anderen gierig und hartherzig. Doch treffe es zu, dass erst ausreichendes Versorgtsein jene freundliche Gelassenheit schenke, die man kaum an Orten antrifft, wo grasser Mangel herrscht.

 

Ich sagte, dass gute Versorgtheit die Menschen stark mache und nur starke Menschen sich gut zu sein leisten können. Schwachen Menschen sei nicht zu trauen, was aber nur eine Feststellung und kein Vorwurf sein soll.

 

Der Alte betrachtete mich von der Seite. „Das klingt hart und stimmt so wohl auch nur, wenn man die hundert Anmerkungen, die man dazu machen muß, alle mitbedenkt. Doch dazu habe ich jetzt keine Lust.“

Er klopfte mir auf die Schulter und lud mich ein, mich ihm und seinen Tieren anzuschließen, denn auch er wolle ins Tal hinuntersteigen.

 

 

2

Wir kamen zeitweise recht flott voran, die Ziegen liefen uns sogar manchmal voraus. Dann wieder rupften sie beharrlich an Zweigen und Blättern, von denen sie weder durch Locken noch durch Schimpfen wegzubringen waren. Der Alte zuckte bedauernd mit den Schultern. „So sind sie nun mal..., sie kommen schon nach.“

 

Wir warteten ein wenig, beachteten die Ziegen nicht und sprachen über Einzelheiten des Tales, die nach und nach zu sehen waren. Dann gingen wir langsam weiter und die Ziegen kamen hinter uns her.

 

Im Talgrund blinkte ein Wasserlauf, der sich in vielen Windungen durch eine Auenlandschaft wand. „Es ist die Echra“, beantwortete der Alte meine entsprechende Frage. „Das Echratal!“ murmelte ich überrascht, „ja, gibt es das denn wirklich!“

 

Ich wußte, dass sich im Tal der Echra vor einigen Jahrzehnten technikfeindliche Utopisten angesiedelt hatten. Diese „Echraner“ hatten mich aber nie interessiert und Berichte von ihrer Lebensweise gelangweilt, sie waren für mich einfach nur romantische Spinner.

 

„Du scheinst dich darüber nicht besonders zu freuen“, lachte der Alte, als ob er meine Gedanken hätte lesen können. „Wenn du Angst vor den Echranern hast, kannst du über den Paß im Osten ins nächste Tal wandern.“

 

„Warum sollte ich Angst haben?“ fragte ich.

 

„Angst vor Ansteckung! Du wärst nicht der erste, der sich vor der echranischen Lebensweise fürchtet...“

 

Der Alte lachte, ich spürte seinen gutmütigen Spott. Auch ich grinste. „Ach, da bin ich ganz unbesorgt. Ich bin sicher immun gegen echranische Ideen, denn ich kenne - auch wenn man es mir nicht gleich ansieht - das Leben und vor allem die Menschen.“

 

„Du hast wohl schlechte Erfahrungen mit den Menschen gemacht?“ fragte mich der Alte, nun wieder ohne ironischen Unterton.

 

Ich winkte ab. „Wir Menschen haben es nicht leicht. Wir sind halb Tier und halb unser eigenes Kunstprodukt, strecken die Köpfe gern über die Wolken und treten die Erde, die uns nicht losläßt, nicht weniger mit den Füßen als jeder wilde Ochse...“

 

Der Alte betrachtete mich von der Seite, sagte aber nichts. Nach einer Weile rief er seine Ziegen, die ein Stück zurückgeblieben waren.

„Das hört sich an, als wärst du über die Erdbindung der Menschen nicht recht froh. Bist du deswegen auf die hohen Berge gestiegen, um deinen Kopf über die Wolken zu strecken?“

 

„Vielleicht, ich habe darüber nicht nachgedacht“, antwortete ich. „Aber nun will ich ins Tal, und wenn darin Echraner leben, so sind sie mir gerade so recht wie irgendwelche anderen Leute!“

 

Wir setzten also unseren Weg fort, der aber im üblichen Sinn des Wortes kein solcher war, denn wir spazierten quer über Wiesen und Matten, durchschritten einen urwüchsigen Laubwald voller Vogelgesang und kamen schließlich an einen Wildbach, dessen Wasser wir ins Tal folgten.

 

Bald waren wir von blühenden Gehölz umgeben, die sich wie Blütenstraßen ins Tal zogen. Noch niemals zuvor hatte ich so viele Hecken und Raine gesehen. Näherte man sich ihnen, vernahm man ein gewaltiges Summen von Bienen, Hummeln und Käfern, die sich in dem Blütenmeer tummelten. Lange entdeckte ich keine Gebäude, bis eine felsige Anhöhe einen Blick über tiefergelegenes Land ermöglichte. Nun sah ich auch Einzelgehöfte, die, wie Zellkerne dalagen, umrahmt von den blühenden Gehölzen. Ich sah Gemüse und Weingärten, kleine Getreidefelder und eine Vielzahl von Obstbäumen.

Ich äußerte mein Entzücken über die Lieblichkeit der Umgebung und mein Begleiter freute sich darüber.

 

„Da unten“, sagte er nach einer Weile genießendem Schweigen, „da unten an der Echra - hinter dem Altwasser und den Kopfweiden, man kann den Giebel des Häuschens erkennen - wohne ich mit meiner Frau!“

 

Ich lobte die reizvolle Lage und fragte nach dem nächsten Dorf, in dem ich einen Laden und ein Gasthof vorzufinden hoffte.

 

„Nun, es gibt Dörfer in Echra, doch die sind alle zu weit entfernt, um sie heute noch erreichen zu können“, sagte der Alte. Läden und Gasthäuser, wie ich sie mir erwarten würde, gäbe es dort aber auch nicht.

Ich erschrak ein wenig, denn mein Mundvorrat war beinahe aufgebraucht und so war ich dringend auf eine Einkaufsmöglichkeit angewiesen. „Keine Läden und keine Gasthäuser?“ wiederholte ich ungläubig. „Aber irgendwo müssen Sie doch auch einkaufen?“

 

Der Alte lachte. „Bei uns gibt es nichts zu kaufen, es gibt keine Waren und es gibt auch kein Geld.“

 

Mein Gesichtsausdruck war nach dieser Nachricht sicher alles andere als erfreut und ich spürte alten Widerwillen gegen dieses Echra in mir aufsteigen, doch der alte Mann hatte seine Auskunft so gleichmütig, selbstverständlich, ohne jede Spur von Provokation oder Hochmut gegeben, dass ich mich jeder Frage hinsichtlich der Reichweite der gemachten Feststellung enthielt und nur fragte, wie sich Wanderer wie ich denn dann versorgen könnten.

 

„Nun, auf Tourismus sind wir nicht eingestellt, doch für Besucher hat die Versorgung aber allemal gereicht. Wohl niemand im Tal wird einem hungrigen Wanderer Nahrung und Nachtquartier verweigern. Doch weil wir uns nun schon einmal getroffen haben, kommst du erst einmal mit zu mir nach Hause, was meine Frau sicher auch recht freuen wird. Und wie du an mir sehen kannst, gibt es bei ihr immer genug zu essen...!“

 

Die freundliche Einladung des Alten konnte ich nicht abschlagen, ich sprach zwar noch davon, dass ich niemandem zur Last fallen wolle. Doch der Alte sagte, dass sie mir schon rechtzeitig Bescheid geben würden, sollte dieser Umstand eintreten. Damit war die Sache ausgeredet und wir setzten unseren Weg gemeinsam fort.

 

3

Das Haus des Alten war aus Feldsteinen gemauert, mit Stroh gedeckt und hatte nach Süden eine überdachte Terrasse, wie man sie von amerikanischen Farmhäusern kennt. Alles Gebälk war aus geschälten, teilweise krumm gewachsenen Rundhölzern. Überhaupt hätte man lange erfolglos nach einer geraden Linie oder einem rechten Winkel suchen können. Dennoch wirkte alles sehr solide und gediegen.

Im Inneren befand sich in der Mitte ein gemauerter Kamin, an dem sich die Treppe ins Obergeschoß anlehnte und von dem aus die Balken der Zwischendecke und der Dachsparren sternförmig zu den Aussenmauern liefen.

Das Erdgeschoß bestand aus einem einzigen Raum, der „Lebensraum“, wie der Alte sagte, er war Wohnstube, Küche, Bad und Werkstatt in einem. Alleine für das Schlafen gab es im Obergeschoß einige kleine Zimmer.

 

An der Nordseite lehnte sich ein Heuschober an. Daneben lag ein hölzerner Stall für die Ziegen. Diese waren das letzte Stück vorausgelaufen. „Es drängt sie in ihren Stall“, sagte der Alte. „Warum sie dort so gerne sind, werde ich nie begreifen. Das Futter, das sie dort finden, ist niemals so frisch, wie dasjenige im Freien. Das Wasser nie so sauber wie im Bach. Die Einstreu, auch wenn sie frisch ist, bedeckt ihren Mist. Wie soll man das verstehen?“

Ich hörte interessiert zu, wußte aber darauf nichts zu antworten, denn von Ziegen hatte ich keine Ahnung und sie interessierten mich auch nicht besonders.

 

Die Frau des Alten hatte freundliche Augen, die aussahen, als seien sie noch niemals betrogen worden. Ihr Haar war grau, ihr Gesicht sonnenverbrannt und von feinen Linien gezeichnet, sie war der lebende Beweis dafür, dass einen die Jahre nicht alt zu machen brauchen, wenn man sich ein kindliches Herz bewahrt. Die „Frau“, der Alte nannte sie so, die Frau ihn wiederum „Mann“, war über mein Auftauchen überrascht, doch war zu spüren, dass ihr der Besuch nicht unangenehm war. Sie lud uns an einen Tisch, der unter einem Kirschbaum in der Nähe des Hauses stand, trug Milch in irdenen Bechern auf, stellte frische Fladen aus Kartoffelteig auf den Tisch, dazu eine Kugel Ziegenkäse, reichlich Tomaten und ein paar Zwiebeln.

 

Wir sprachen über das Wetter, dann über das Essen und ich lobte die vorzüglichen Fladen und den köstlichen Käse. Die Ziegenmilch kostete ich erst ganz vorsichtig und trank dann schließlich zwei Becher davon, erstaunt, dass sie gar keinen unangenehmen Eigengeschmack hatte. Die Alten hatten meine anfängliche Zurückhaltung bemerkt und schmunzelten darüber. Dann erfuhr ich, dass die verbreitete Meinung über den strengen Geruch von Ziegen und ihrer Milch nur ein Vorurteil sei. Ziegen hätten kaum Eigengeruch. Nur wenn sie mit Böcken zusammen gehalten werden, nähmen sie deren starken Geruch an, was sich auch bei der Milch bemerkbar mache.

 

Nach dem Essen spazierten wir ein wenig an der Echra entlang, einem nicht allzubreiten, behäbigem Flüßchen, das von mächtigen Weiden und Erlen umsäumt ist. Wieder zurück sagte man mir, ich könne in einer Laube schlafen, einem von Kletterpflanzen überrankten Gartenhäuschen, einem luftigen, aber wunderbarem Quartier. Ich liebe das Schlafen bei offenem Fenster, wenn dies nicht gerade großer Verkehrslärm unmöglich macht. Auf meiner Wanderung hatte ich mich auch daran gewöhnt, im Freien zu nächtigen, doch Morgentau, Kühle und schlafraubende Helligkeit waren nicht immer die reine Freude. Die Laube aber war ein geschützer Raum, in dem man trocken lag und doch im Freien, mit allen Vorzügen für die Atmung.

 

Ich ging an diesem Abend mit der Dämmerung schlafen und wachte, durch das grüne Rankenwerk vor allzufrühem Licht geschützt, erst am frühen Vormittag auf.

 

Meine Gastgeber erwarteten mich auf der Veranda ihres Hauses sitzend. Sie begrüßten mich freundlich und zeigten mir ihren Brunnen, mit dessen kaltem Wasser ich mich erfrischte. Beim anschließenden Frühstück - es gab Äpfel, frisch gebackene Weizenfladen, Butter, Honig und Milch - plauderten wir erst über das Wetter, die einfache und doch so köstliche Speise und schließlich über den Sinn des Reisens. Ich bemerkte schließlich, dass Tierhaltung Reisen unmöglich macht und fragte meine Gegenüber, ob sie dies nicht bedauerten.

 

Beide verneinten dies lachend, grad so, als ob ich einen Witz gemacht hätte. Ich sagte, dass dort, wo ich herkam, Reisen für viele Menschen zum Erstrebenswertesten gehöre, was das Leben zu bieten hat, ja, viele sogar dafür bereit sind, das ganze Jahr eine ungeliebte Arbeit zu machen um sich für wenige Wochen eine Reise leisten zu können.

Das Gesicht des Alten wurde ernst. „Du bist unser Gast, ich will dich nicht verärgern. Doch wenn ich dir antworten würde, wie es mir grad auf der Zunge liegt, würde es dich wohl. Ich will es daher so sagen: Schon in einem Wassertropfen spiegelt sich die ganze Welt. Und wieviel mehr als ein Wassertropfen ist diese Aue, dieses Tal, das Leben in ihm. Wir vermissen nichts und es drängt uns nicht woanders hin. Wen es zum Reisen drängt, wird wohl etwas vermissen, was er woanders zu finden hofft.“

„Ich bestreite es nicht, dass Reisen auch immer Suche ist, manchmal auch eine Art Flucht“, sagte ich. „Doch ist es schlecht, wenn man etwas sucht, wenn man die Welt kennenlernen will, wenn man dem Alltag entflieht?“

 

„Dem Alltag will man nur entfliehen, wenn er einem mißfällt. Die Welt lernt man nicht kennen, wenn man über sie hinweg eilt und suchen tut nur, wer etwas vermißt“ entgegnete der Alte freundlich.

 

„Aber ist der Mensch nicht von alters her ein Nomade, also einer, dessen Bestimmung es ist, unterwegs zu sein?“ wandte ich ein.

 

„Es war die Notwendigkeit den Futterplätzen zu folgen“, sagte der Alte, „es war die Not, die den Menschen wendig machte, die Not, die er zu wenden suchte. Die Ortsfestigkeit kam in der Tat erst später, denn sie setzte viele Entwicklungsschritte voraus, etwa die Fähigkeit sich winterfeste Bekleidung und Behausung zu schaffen, seine Nahrung durch Anbau oder Tierhaltung zu erzeugen, Vorratshaltung und auch einiges an sozialer Entwicklung. Die materielle Notwendigkeit ist es wohl nicht, die heute Menschen umtreibt. Warum halten sie es aber dennoch nicht zu Hause aus? Suchen sie vielleicht nach noch besseren Futterplätzen? Oder suchen sie nach irgendeinem Lebenssinn oder einer Lebensqualität, die sie daheim entbehren? Oder brauchen sie die äußere Bewegung, um der Langeweile zu entfliehen, die die meisten Menschen überfällt, wenn sie haben, was sie an Lebensnotwendigem brauchen?“

 

Ich zuckte die Achseln. „Es ist halt so, über die Ursachen zu sinnieren, ist mir bislang noch nicht in den Sinn gekommen. Es mag vieles so sein, wie sie sagen, manches aber auch sicher anders“, sagte ich und konnte meinen Unwillen über die Ausführungen des Alten nicht ganz verbergen. Dieser spürte dies wohl und vertiefte das Thema auch nicht weiter.

 

Im weiteren Verlaufe des Frühstückes kam ein Enkelsohn zu Besuch. Die Alten stellten ihn mir vor und mich nannten sie einen Wanderer, dessen Namen sie noch nicht erfragt hatten. Ich nannte meinen Namen und entschuldigte mich für meine Unhöflichkeit und erfuhr nun auch ihre Namen.

 

Der Junge war überrascht einen Fremden anzutreffen und gab sich nicht mit meinem Namen zufrieden und wollte auch gleich wissen woher ich kam, wohin ich zu gehen beabsichtigte, wer ich war und vieles andere mehr.

 

„Ich komme aus dem Land nördlich der Berge und lebe dort in einer großen Stadt. Beruflich bin ich Arzt und mit meiner Wanderung erfülle ich mir einen langgehegten Wunsch“, sagte ich.

Doch diese Erklärung reichte dem Jungen nicht, er wollte wissen was ein Arzt sei, was eine Stadt, was ein Land...

 

Ich erklärte, ein Arzt sei einer, der kranken Menschen helfe und dafür Geld erhalte, doch der Bub fragte was „krank“ sei, warum man für helfen etwas bekäme und was Geld sei...

 

Die Fragerei amüsierte die Alten, alleine dem Jungen war die Sache sehr ernst. Mit großen Kinderaugen stand er vor mir und verlangte Antwort auf seine Fragen...

 

„War er noch nie bei einem Arzt?“ fragte ich, „kennt er kein Geld?“

 

Seine Großeltern schüttelten lächelnd ihre Köpfe und der Junge schaute zwischen mir und ihnen hin und her.

 

„Wenn es so ist“, sagte ich, nun ebenfalls lächelnd, „dann werde ich es dir zu erklären suchen. Also...“

 

Und so erklärte ich, was ein Arzt war, was Krankheit und was Geld, wobei letzteres dem Kleinen doch zu merkwürdig vorkam. „Papier, für das man Essen bekommt, Ziegen, Brot und Häuser? Das möchte ich einmal sehen, dieses Wunderpapier!“

 

Ich holte aus meinem Rucksack meine Brieftasche und  daraus einen Geldschein, den ich dem Jungen zeigte. Er gefiel ihm sichtlich und er wendete ihn hin und her, dass dafür aber jemand eine Ziege tauschen würde oder ein Haus, schien ihm aber doch unglaubwürdig.

 

Ich fragte den Alten, warum es in Echra kein Geld gab und bekam zur Antwort, dass Geld die Menschen verrückt mache weil durch Geld alles, einschließlich der Menschen, zu Ware werde.

 

„Aber Geld“, wandte ich ein, „ist doch eine praktische Sache, es ist ein universelles Tauschmittel, ein Vorrat zudem, den man quasi für den Winter sammelt und aufbewahrt. Geld ist zudem die Voraussetzung für Arbeitsteilung, für Handel und Fortschritt, ja, es ist vielleicht sogar das Fundament unserer Zivilisation, unserer Gesellschaft. “

 

„Es ist ein Hilfsmittel, das euch zum Zweck wurde“, sagte der Alte. Geld ist euch Ziel und Peitsche und vielen ist es sogar zum Gott geworden. Wie dieser hat es nur dann Wert, wenn man an seinen Wert glaubt. Sobald man an ihm zweifelt, ist es aus mit seiner Bedeutung.“

 

An dieser Betrachtung sei schon was dran, räumte ich ein. „Ich eigne mich als Anwalt der Geldwirtschaft auch nicht recht, da ich es selber eher geringschätze und nur als notwendiges Übel anerkenne.“

 

„Es sind noch immer dieselben Themen“, bemerkte die Alte dazwischen. „Was haben wir uns darüber nicht schon die Goschen heißgeredet, damals, als es Echra erst in unseren Köpfen gab..“

 

Der Alte lachte. „Man vergißt schnell, dass es hinter den Bergen noch immer so läuft, wie ehedem.“

 

„Hinter den Bergen…“ wiederholte ich lächelnd, „das hört sich an wie das Märchen von Schneewittchen.“

 

„Ich kenne Schneewittchen!“, sagte der Junge und so endete das Gespräch bei den sieben Zwergen und dem Spiegelein an der Wand...

 

 

 4

Ich beschloß ein paar Tage in Echra zu bleiben und mir dieses merkwürdige Land genauer anzusehen. Doch konnte ich mich einfach selber einladen, zum Nachtquartier und zum Essen? Woanders wäre ich in ein Gasthaus gegangen, um für Geld Essen und ein Bett zu bekommen. Aber hier? Der Alte schien mein Problem zu erraten. Ich könne ruhig so lange bleiben wie ich wollte, sagte er mir, als wir das Geschirr abräumten. Ich wandte ein, ein solches Angebot nicht ohne Gegenleistung annehmen zu können. Der Alte schaute mich an und zuckte die Achseln. „Du kannst dich gerne ein wenig nützlich machen, wenn es dich beruhigt. Die Heuernte steht vor der Tür und da können wir ein paar starke Arme mehr ganz gut gebrauchen.“ Die Idee gefiel mir und so blieb ich.

 

Es konnte wohl nicht anders sein – der Alte mähte seine Wiese mit der Sense. Sie sei ein optimales Werkzeug, sagte er, wenn sie scharf sei. Um das zu erreichen hallten die rhythmischen Schläge von seinem Dengelhammer durch die Aue, mit der er Stück für Stück die Schneide breitklopfte. „Für meine zwei Ziegen brauche ich nur einen Morgen Wiese zu mähen, und das schaffe ich in einem halben Tag. Man braucht weniger Kraft dafür, als du vielleicht vermutest“, sagte der Alte zu mir. „Du mußt dich entspannen dabei, ganz locker ausholen und eine schmale Mahd nehmen, die Sense dicht über dem Boden führen, nicht reißen und nicht hudeln. Du darfst nicht denken: Wann bin ich endlich fertig? Du mußt deine Bewegung vergessen und deinen Körper wie ein Uhrwerk arbeiten lassen: Spannung - Entspannung, Ausholen - Heranziehen. Mit deinen Gedanken kannst du in dieser Zeit alles machen, denken, dichten oder dösen, du kannst den Duft des Grases genießen oder dem Vogelgesang lauschen, du kannst singen oder schweigen, mähen wird so zur Meditation. Und wenn du so die Zeit vergißt und die Größe der Wiese, dann bist du auf einmal fertig, ohne dass du es wirklich gewahr wirst. Und so nebenbei hast du deinem Körper etwas Gutes getan. Sport und Spiel sind sicher eine nette Sache, aber eine Bewegung, die auch noch einen praktischen Sinn erfüllt, das ist etwas ganz anderes.“

Nach diesem hohen Lied versuchte ich mich natürlich auch in der Sensenkunst, doch jeder kann sich denken, wie es mir erging. Entweder fuhr die Sensenspitze in die Erde oder sie glitt ohne viel zu schneiden über das Gras, dann fing ich an zu reißen, dass mir die Schulter schmerzte und der Stahl fraß sich in Grasschübel fest.

 

„Heu ist ein wunderbares Futter, wenn man es in drei Tagen in den Schober bringt“, erklärte der Alte, als ich ihm beim Wenden half. „Gleich nach dem Mähen darf es das Gras ruhig noch einmal abregnen, das schadet nicht. Wenn es aber einige Tage regnet, dann ist das sehr schlecht. Das Heu wird gelb und braun und ist nur noch als Einstreu zu gebrauchen. Gutes Heu ist grün und duftet, wie eben nur Heu duftet. So wird es aber nur, wenn man es durch fleißiges Lockern und ausreichend Sonne möglichst schnell zum Knistern bringt. Die Ziegen naschen davon sogar im Sommer gern, auch wenn es frisches Gras gibt.“

 

Ich gestand, mir darüber noch nie Gedanken gemacht zu haben. Dies sei dort, wo ich lebe, auch noch niemals nötig gewesen. „Dass Mähen mit der Sense eine Art meditativer Sport sein kann, ist mir neu. Ich habe es immer für großes Mühsal gehalten. Und -“ , ich spielte lachend auf meine mißglückten Mähversuche an, „für mich ist es das auch.“ 

Der Alte widersprach nicht und lachte ebenfalls. „Es ist wie mit allem, anfangs braucht man viel Kraft dafür und später gehts fast von alleine!“

 

„Das echranische Leben scheint voll von solchen „meditativen Arbeiten“ zu sein“, sagte ich mit etwas schelmischen Unterton. „Außerhalb Echras werden diese gleichförmigen Arbeiten immer mehr an Maschinen übertragen. Allgemein wird das für großen Fortschritt gehalten“.

 

„Das ist mir wohl bekannt!, antwortete der Alte. „Und was machen die Menschen stattdessen?“

 

„Sie machen häufig Arbeiten, die höher im Kurs stehen. Sie bauen oder bedienen die Maschinen, kontrollieren und verwalten einander oder geben sich in zunehmenden Maß ihren Freizeitvergnügen hin“, sagte ich.

 

„Fernsehen, elektronische Spiele, Sport, Einkaufen, Reisen, Rauchen, Trinken..., habe ich etwas wichtiges vergessen?“ Der Alte schmunzelte.

„Wenn ich dich richtig verstehe ziehst auch du dies dem Mähen, Heu wenden, Holz hacken, Gemüse hacken, Ziegen hüten usw. vor?“

 

„Es gibt auch anderes“, sagte ich, „für einen denkenden und empfindsamen Menschen gibt es vieles, was man stumpfsinnigen Arbeiten vorziehen kann. Ich nenne hier natürlich das Lieben, das Essen, Trinken, das Schlafen natürlich, die aktive oder passive Beschäftigung mit den schönen Künsten, das Reisen, das Lernen und Lehren, das Forschen, das Helfen, das Lesen, ja, auch das Spielen, den spielerischen Umgang mit an sich ernsten Arbeiten, aber auch das Faulenzen. Wer würde nicht lieber in der Sonne sitzen und die Welt betrachten, als sich schwitzend abzumühen? Aber auch wenn ich des Nichtstuns müde bin, ziehe ich der Arbeit die spielerische Bewegung vor, etwa das sportliche Üben des Körpers, aber auch das selbstbestimmte Durchschreiten der Welt: das Gehen. Deshalb bin ich auch zu Fuß unterwegs und messe mit meinem Schritt den Boden unter mir, ich glaube es gibt wenig Schöneres...“

 

Der Alte schaute mich gedankenversunken an. „Ich gebe dir recht,“ sagte er nach einer Weile.“ Es gibt wirklich viel Schönes, was man der Arbeit vorziehen kann. Auch ich liebe alles, was du aufgezählt hast. Und doch hat die Mehrzahl der Menschen in den Industrieländern mit ihrem Wechsel vom Pflug zum Fließband einen schlechten Tausch gemacht und ihre Freizeitvergnügen sind eher trauriger Natur und sind so, wie ich es aufgezählt habe. Doch auch bei euch muß das Lebenserhaltende hergestellt werden und ich möchte das gerne selber tun, denn ich mache das die meiste Zeit recht gerne und nebenher genieße ich die Unabhängigkeit und Freiheit, die ich mit meiner Arbeit gewinne. Für deinen edlen Zeitvertreib finde ich nebenher immer noch genug Zeit.“

 

So redeten wir noch eine Weile über süßes Nichtstun und der Alte zudem über süße Arbeit und dass das Nötige mit Verstand recht leicht zu schaffen sei und damit nebenbei Freiheit entstehe und Genugtuung und gutes Gewissen nicht auf Kosten von irgendjemandem zu leben.

 

 

5

„Ihr Echraner! Ihr lebt wie die Landbevölkerung anderswo vor hundert Jahren. Warum seid ihr zurückgegangen in der Entwicklung?“ fragte ich den Alten beim Heuwenden. „In Amerika soll es auch eine Gegend geben, wo die Menschen leben wie ihre Vorfahren aus der Pionierzeit, ja selbst die Kleidermode ist entsprechend.“

 

„Wir Echraner sind weder Traditionalisten noch Nostalgiker,“ antwortete der Gefragte, „womit ich aber nichts gegen jene Amerikaner einwenden möchte. Nur wir Echraner imitieren nicht die gute alte Zeit, die bekanntlich so gut niemals war. Nach unserem Verständnis haben wir uns nicht zurück entwickelt, sondern nach vorne. Nur was sich wirklich bewährt hat, daran halten wir uns. Dazu gehören ganz sicher nicht die alten Hierarchien und Besitzverhältnisse, ebensowenig die religiösen Illusionen und überkommenen Bräuche und Beschränktheiten. Wir wollen unser Leben gut leben, wollen möglichst viel davon selbst bestimmen und wir wollen freundlich mit unseren Nachbarn zusammenleben und unseren Kindern die Welt so hinterlassen, dass auch sie darin noch gut leben können. Dazu brauchen wir vergleichsweise wenig. Wenn sich ein Hilfsmittel für einen Zweck bewährt hat, dann genügt uns dies und wir vergeuden nicht unsere Zeit damit, immer raffiniertere Gerätschaften für den selben Zweck zu schaffen.“

 

„Das bedeutet, ihr plagt euch mit Arbeiten, die bei uns Maschinen ohne Mühe verrichten, kann das vernünftig sein?“ wandte ich ein.

„Wer seine Arbeit maschinenmäßig macht bekommt ein Maschinenherz. Dies ist keine echranische, sondern eine uralte chinesische Weisheit“, sagte der Alte. „Das weitgehende Fehlen von Maschinen behütet uns auch davor zu große Fehler zu machen, denn die Maschinenkraft schafft zwar Beeindruckendes, doch niemals Lebensfreude oder gar Zufriedenheit.“

 

Ich schwieg und obwohl ich fühlte, dass der Alte sicher nicht ganz Unrecht hatte, konnte ich das Loblied der einfachen körperlichen Arbeiten so nicht nachsingen. Ich dachte an die Arbeit mit dem Heu in den vergangenen Tagen und, obwohl es wirklich keine schlimme Arbeit gewesen war, befriedigt hatte sie mich nicht besonders. Sicher, wenn ich an die Fließbandarbeit in meiner Welt hinter den Bergen dachte, an die vielen Menschen vor den Bildschirmen, hinter den Ladentischen, an den Kanonen oder hinterm Steuer, dann schienen mir diese Tätigkeiten in keiner Weise anziehender zu sein.

 

6

Da der Enkelsohn ja offenbar keinen Arzt kannte und wie es schien, auch keine Krankheiten, was mir sehr sonderbar schien, fragte ich nach.

Natürlich, sagte der Alte, gibt es auch in Echra Unpässlichkeiten, Verletzungen und auch ab und zu schwere Krankheiten. Und es gibt auch in jedem Dorf Leute die sich der Heilkunde ganz besonders verschrieben haben und die den anderen ihr Wissen weitgeben oder praktisch helfeb, wenn es nötig ist. Nur den Berufsstand „Arzt“, der nichts anderes macht, als gegen Geld zu heilen, den gibt es in Echra tatsächlich nicht. Und es ist auch schon vorgekommen, dass Schwerkranke Echra verlassen haben, um sich außerhalb in einer modernen Klinik behandeln zu lassen. Mir ist aber kein Fall bekannt, in dem wirklich jemand geholfen worden wäre. Es kann sein, dass einer damit seinen Tod um eine kleine Zeitspanne verlängert hat, doch zum Preis lebenslanger Abhängigkeit von Apparaten und Pillen. Im übrigen kann keiner wissen, wie lange einer mit echranischer Therapie, also mit Hilfe der Naturheilkunde, noch zu leben gehabt hätte.

 

Der Alte spürte meine Skepsis und versuchte mir klarzumachen, dass in Echra die Lebensbedingungen eben so seien, dass sie Krankheiten nicht fördern. Dann zählte er die optimalen hygienischen Bedingungen und die gesunde Nahrung auf, die körperliche Bewegung in sauberer Luft, das Fehlen von Stress und Zwängen und die günstigen seelischen und sozialen Verhältnisse.

 

 

 

An dieser Stelle endet der erzählende Teil des Berichts. Doch sollte er als Einleitung für das Folgende  genügen, in dem der Wanderer  die Ausführungen des Alten notiert hat.

 

 

 

 

 

2.        Teil Ausführungen des alten Echraners

 

Echranische Weltsicht

Wir Menschen sind Geschöpfe dieser Erde und unser Leben ist in vielfältiger Weise mit dem übrigen Leben verwoben. Diesem möglichst wenig zu schaden und seine Vielfalt und sein Gedeihen zu fördern, liegt daher in unserem ureigensten Interesse. Auch die Voraussetzungen des Lebens, seine Bausteine, wie Erde, Wasser, Luft, müssen mit Rücksicht behandelt werden, denn ihre Vergiftung oder gar Zerstörung kann auch uns schädigen.

 

Wir Menschen haben, wie alle anderen Lebewesen, das Recht auf Versorgung mit dem Nötigen und Zuträglichen. Unersättliches Habenwollen darüber hinaus begreifen wir als Geisteskrankheit, die schuld ist am traurigen Zustand der Welt. In Echra genießt daher rücksichtsvoller Verbrauch hohes Ansehen, ebenso der Grundsatz der Nachhaltigkeit, also nur soviel zu verbrauchen, wie wieder nachwächst.

 

Wir Menschen sind nur eine Lebensform unter vielen, auch wenn uns die Fähigkeit Hilfsmittel zu gebrauchen zu den mächtigsten aller Lebewesen gemacht hat. Die beeindruckenden technischen und kulturellen Leistungen verleiteten uns zur Überheblichkeit und zur Geringschätzung der übrigen Lebewesen. Irgendwann glaubte unsere Art außer der Natur zu stehen, die sie zum bloßen Objekt für menschliche Interessen degradierte, zu Nahrung, Werkzeug und Rohstoff. Diese Weltsicht führte zu unheilvoller Distanz zur Natur und wurde mit jeder Generation selbstverständlicher. Irgendwann rechtfertigte man diesen menschenzentrierten Rassismus auch metaphysisch und schuf sich einen Gott nach dem eigenen Bilde. Doch dieses Weltbild ist so einfältig wie jenes, das die Erde als Scheibe und als Mittelpunkt der Welt sah, um den Planeten und Sterne kreisen.

 

Mit dem Grad an Einsicht in die Komplexität der Welt und unsere Eingebundenheit darin, wächst die Bescheidenheit. Um als Art auf lange Sicht überleben zu können, brauchen wir Bedingungen, die nicht wesentlich von denen abweichen dürfen, in denen sich unsere Evolution vollzogen hat. Somit müssen wir die Natur vor unserer eigenen Maßlosigkeit und Beschränktheit schützen.

Wir sollten zudem bedenken, dass wir zwar von der Natur abhängig sind, diese aber auf Menschen schadlos verzichten kann.

 

Von der Religion

Da in Echra alles erlaubt ist, was keinem anderen schadet, kann natürlich auch jeder glauben was er will. Priester und Kirchen gibt es aber keine. Unvorstellbar ist uns die Vergewaltigung von Kindern durch die Säuglingstaufe, durch religiöse Dressur oder gar die kirchlich angeordnete Verstümmelungen ihrer Geschlechtsteile...

 

Ob es Echraner gibt, die an einen Gott im Sinne eurer Religionen glauben, ist alleine ihre persönliche Angelegenheit. Ich kann hier nur für mich reden und es erscheint mir müssig darüber zu grübeln, ob es noch eine metaphysische Welt hinter der wirklichen Welt gibt. Wie es sich auch verhalten mag, es hat für uns Menschen keine Bedeutung. Gibt es einen Schöpfer, dann ist auch unser zweifelnder Verstand von ihm und er wird uns kaum dafür verurteilen, wenn wir ihn gebrauchen. Im Gegenteil, wie könnte ein Gott sich darüber freuen, wenn seine Geschöpfe ihre Welt, in die er sie gesetzt hat, verachten, in dem sie nach einer anderen schielen und ihn durch Herunterleiern von geratschten Gebetsformeln für sich einnehmen wollen? Gäbe es einen Gott, würde man ihn auf diese Weise lästern und verspotten.

 

Mit der Sehnsucht nach einem himmlischen und teuflischen Jenseits verspottet man im Grunde das wertvollste, was es für lebende Wesen geben kann: das Leben.

 

Der Jenseitsglaube der Religionen soll die Menschen auf die Zeit nach ihrem Tode vertrösten und im wirklichen Leben verängstigen und disziplinieren. Wer das Leben nur als Jammertal begreift und als Prüfung für das eigentliche Leben danach, nimmt die unmenschliche Wirklichkeit hin, statt alles dafür zu tun, sie zu verbessern. Der Einfältigste sollte erkennen, dass Religion, vor allem anderen, ein Werkzeug von Politik und Macht ist.

 

Götterglauben und Religion ziehen eine lange blutige Spur durch die menschliche Geschichte. Bis zum heutigen Tag gibt es nichts gefährlicheres auf dieser Welt als religiösen Fanatismus, denn er schaltet den Verstand aus und macht die Menschen zu willenlosen Werkzeugen für rassistische, nationalistische und Machtinteressen aller Art. Die Zahl der Kriege und das Ausmaß an Unterdrückung und Zerstörung, das im Name der Religionen verübt wurde, lässt sich überhaupt nicht erfassen. Religion und alle mit ihr verwandten Sinnesverwirrungen und fanatischen Überzeugungen sind die schlimmsten Gifte auf dieser Welt. Und schon immer auch kommen sie in einer materialistischen Spielart, als „goldene Kälber“ in Form von Geld oder blinder Technikgläubigkeit daher.

 

Selbstverständlich ist auch in Echra das Leben nicht nur Glückseligkeit, wäre es so, wäre das wohl auch eine Form der Hölle, denn alle Lebewesen brauchen den Wechsel, die Spannung und die Entspannung, das Hungerhaben, das Essen und das Sattsein usw. Kein Hoch gibt es ohne Tief, kein Glück ohne Unglück, kein Heiß ohne Kalt, kein Hell ohne Dunkel. Jeder Pol hat seinen Gegenpol. Wer könnte den Tag schätzen, gäbe es die Nacht nicht? Selbst der Schmerz hat meistens seinen Sinn, als Wegweiser zu einem vernünftigen Leben. Und wie könnte man dieses verehren ohne den Tod?  Erst seine Endlichkeit macht das Leben so wertvoll.

Nun könnte man vermuten, dass der Tod für Menschen, die das Leben derart verehren und lieben, eine unerträgliche Vorstellung sein muss. Doch wir wissen, dass er zum Leben gehört, wie die Geburt. Natürlich verwünschen wir ihn und wer wollte ihn – wenn er nicht gerade sterbenskrank ist - nicht vermeiden! Doch wenn wir über ihn jammern und schimpfen, dann grad so, wie Menschen eben über das Unveränderliche klagen, etwa über das Wetter, den Winter oder die Schwerkraft...

 

Der Tod ist uns - der religiösen Ängste und Hoffnungen entkleidet - ein Nichts. Warum soll man vor Nichts Angst haben? Wir haben - bevor wir geboren wurden - schon eine Ewigkeit nicht gelebt, und nicht anders wird es nach unserem Ableben sein.

Greise, die ein erfülltes Leben gelebt haben, denen schon alle geliebten Gefährten ihres langen Lebens weggestorben sind, die unter der zunehmenden Gebrechlichkeit ihres Körpers leiden, die nach neunzig Wintern keinen weiteren mehr erleben wollen, wünschen gelegentlich den Tod herbei, wie ein müder Mensch die Nacht. Kann man daraus nicht schließen, dass für den Menschen Unsterblichkeit die größte Strafe wäre? Wer ein wenig überlegt, der kann die Verheißung „ewigen Lebens“ nur als eine schlimme Drohung auffassen.

 

Gerade unsere Sterblichkeit muß uns mahnen, unsere Mitmenschen hier und heute zu lieben und ihr Leben zu versüssen. Der Trost der Religionen, dass die Toten im Jenseits auf uns warten und sie uns nur vorausgegangen sind und wir dereinst wieder mit ihnen vereint sein werden, wenn – ja wenn wir uns den Priestern und ihren Regeln unterwerfen! – ist Mißbrauch des Trostes zu durchsichtigen Zwecken.

 

Trösten kann aber auch, wenn wir unsere Lieben in unseren Herzen bewahren und uns über die gemeinsam erlebten Zeiten freuen und darüber, sie gekannt zu haben und vielleicht ihre Anliegen weiter verfolgen zu dürfen. 

 

Wir müssen uns damit abfinden, nur Gäste auf dieser Erde zu sein und ein Bindeglied in der Kette der Generationen, oder ein Baustein, auf dem andere weiter aufbauen können.

Dies ist unser Ehrgeiz und wenn wir dafür noch ein wenig in den Köpfen der Mitmenschen weiterleben dürfen, dann ist das durchaus ein gutes Gefühl. Deshalb bemühen wir uns unser Leben heute so zu leben, dass man sich noch eine Weile an uns gerne erinnert, mehr kann man nicht tun und mehr nicht erreichen.

 

Aber auch sonst geht von uns nichts verloren, weil auf dieser Erde nichts verloren geht und sich alles wieder zu neuem Leben wandelt, gerade so, wie unser Körper sich aus früherem Leben zusammensetzt. Wir sind Teil des Kreislaufes alles Lebendigen, nicht anders wie jede Pflanze und jedes Tier. Was heute zu mir gehört, war vielleicht gestern ein Baum, ein Gras, ein Tier -  und wird morgen vielleicht wieder in einem Baum aufgehen, übermorgen in einem Kraut, in einem Tier, irgendwann wieder in einem Menschen.

 

Lebenskunst

Die Lebenskunst gilt in Echra als die wichtigste Kunst, die wichtigste Wissenschaft. Wir verstehen darunter sowohl die Kunst des Überlebens als auch die Kunst gut zu leben, also das Leben interessant, sinnvoll und möglichst lustvoll zu leben. Sie ist der Ersatz, für den tierischen Instinkt, den wir verloren haben.

 

Deshalb legen wir in Echra den Lebenserfahrungen der Menschen viel Bedeutung bei, denn wer diese geringschätzt, kann aus ihr auch keine Lehren ziehen und muss alle Fehler immer wieder neu machen. Doch auch in den Verhaltensmustern der Tiere hat sich die Überlebenskunst großer Zeiträume niedergeschlagen, sie sind damit ein bedeutsamer Erfahrungsschatz, aus dem wir durch Beobachtung zu lesen und zu lernen uns bemühen.

 

Das Leben ist Gabe und Aufgabe. Schwer lebt sich, wer es nur als das eine oder das andere begreift. Den richtigen Mittelweg zu finden ist die eigentliche Lebenskunst, das richtige Maß also zwischen Genießen und sich Mühen. Wer das Leben nur als Gabe begreift, wird leicht über jeden Stein auf seinem Weg jammern, zumal wenn er sich daran stößt. Wer das Leben nur als Aufgabe begreift, sucht bald nur noch Steine wegzuräumen und wird blind gegenüber den Freuden der Welt.

 

In Anbetracht der vielen Herausforderungen, die das Leben täglich an uns stellt, ist es sinnvoll seine Einstellung zur Welt so zu entwickeln, dass man auch aus ihrer Bewältigung Lebensfreude schöpft. Dies gelingt aber nur, wenn wir unsere Ziele nicht zu weit stecken und uns auch mit der Bewältigung des täglich möglichen Pensums zufrieden geben. Wer dagegen seine ganzen Glückserwartungen nur an das Erreichen von fernen Zielen hängt, handelt unklug, denn das Leben besteht nun einmal in der Hauptsache aus mühevollen Wegstrecken.

 

Und noch eine weitere wertvolle Glücksquelle gibt es: das Glück der anderen. Von dieser Quelle kann nur trinken, wer sich in sie hineinzufühlen lernt und sich mit ihnen zu freuen versteht. Diese Fähigkeit ist die edelste aller menschlichen Fähigkeiten, setzt sie doch die Überwindung von Neid, Gier und Rivalität voraus.

 

Zur echranischen Lebenskunst gehört auch, dass wir uns bemühen das Bewußtsein von den Dingen und Geschehnissen zu schärfen, etwa in dem wir über sie sprechen und ihre Vernetzung in größere Zusammenhänge zu erfassen suchen. Lust setzt - neben der Bereitschaft dafür - immer auch bewusste Wahrnehmung voraus, die Fähigkeit zur Empfindung, was meistens auch Kenntnisse voraussetzt. Wenn uns etwa das Empfinden für die Großartigkeiten der Natur fehlt, dann ist es grad so, als würden diese nicht existieren.

 

Wir versuchen auch der Abstumpfung der Sinne durch Gewöhnung und Reizüberflutung entgegen zu wirken, in dem wir zeitweise Reize zu meiden versuchen oder uns Gewohnheiten eine Weile versagen. Sinnvoll ist es auch sich in allen Lebensbereichen auf einem möglichst niedrigen Niveau zu bewegen, damit Steigerungen überhaupt möglich sind. Der so Verständige kann dadurch alttägliche Gewöhnlichkeiten immer wieder als Besonderheit genießen.

 

Lebenskunst ist auch, wenn man sich an dem erfreut, was man hat und was man kann, nicht erst dann, wenn dies durch einen Schaden erschwert oder gänzlich unmöglich wird. So erfreuen wir uns bewußt am Funktionieren unseres Körpers, der Beweglichkeit und Ausdauer unserer Beine, der Geschicklichkeit unserer Hände, der Kraft der Arme, der Empfindsamkeit der Ohren, der Nase, der Augen, der Haut.

 

Wir bemühen uns, wie es vernünftige Menschen schon immer taten, die Freuden der Gegenwart zu genießen, von denen auch der Alltag voll ist. Wer diese aber verachtet oder wer blind und taub dafür ist, weil er Luftschlössern nachjagt, der ist arm dran und Hilfe für ihn ist kaum möglich.

 

Leiden wir Schmerzen oder ist die Gegenwart durch Widrigkeiten schwer erträglich, dann erinnern wir uns an erlebtes Glück oder hoffen auf zukünftiges, auch das kann trösten und über schwierige Phasen weghelfen. Aber auch die Erinnerung an gemeisterte Schwierigkeiten, an alten Mut, an verheilte Wunden, geben einem Kraft in schwierigen Zeiten.

 

Von der Natur des Menschen

„Wächst der Mensch bei Ameisen auf, wird er zur fleißigen Ameise, bei Schnecken zur schleimenden Schnecke und bei Haifischen zum reißenden Hai. Lie­ße man ihn unter Heiligen aufwachsen, würde er viel­leicht zum Heiligen. Leider konnte letzteres mangels Masse noch nicht ausprobiert werden...“

Dieser Scherz spiegelt sowohl echranische Weltsicht wie auch unseren Humor. Der hohen Bildsamkeit von uns Menschen durch unsere Umgebung stehen vergleichsweise verkümmerte Instinkte gegenüber. Vermutlich ist das eine Folge unserer langen Entwicklungszeit und dem Umstand, dass Menschenkinder so lange Zeit hilflos und gänzlich auf die Zu­wendung und Versorgung durch die Eltern angewie­sen sind. Diese Notwendigkeit verlangt uns als sozia­le Wesen, die Verantwortung für andere übernehmen müssen. Wäre es anders, könnte unsere Art nicht fortbestehen. Aus dem Umstand, dass unsere Art nicht ausgestorben ist, kann also auf eine ursprüngliche soziale Wesensart des Menschen ge­schlossen werden. Gleichzeitig ermöglicht uns auch der Verstand uns in andere hineinzufühlen, doch muß die Fähigkeit zu Mitgefühl und Verantwortung von Vorbildern vermittelt und gefördert werden. voraus. Unser Egoismus dage­gen braucht keine Förderung, er ist von Anfang an mit Urkraft da. Manchmal meine ich, Menschsein ist ein dauernder Kampf gegen diese Kraft. Sozial sein fällt uns dann leicht, wenn wir auch unser Egoismus dabei profitiert, wir also einen Nutzen daraus spüren und wir also quasi in einer sozialen Symbiose leben. Das Gefühl ausgenützt zu werden oder sich nicht auf die anderen verlassen zu können, stärkt dagegen unseren Egoismus und macht uns unsozial.

 

Ein neugeborenes Kind hat nur Rechte, Eltern haben erst einmal nur Pflichten, denn sie alleine sind für das Kind verantwortlich, das sie gezeugt haben. Aus der Ge­borgenheit des Mutterleibes ausgestoßen, kann und darf ein Mensch erst einmal nur das einfordern, was ihm zusteht und lautstark anzeigen, was was ihm nicht behagt. Mit zunehmendem Alter muss diese Ich- Bezogen­heit schwinden. Sie tut es auch bei liebevoller Umge­bung und entsprechendem Vorbild der Erwachsenen von alleine. Die Interessen der Bezugspersonen und der übrigen Lebewesen werden erkannt, soziales Ver­halten wird bestärkt. Dieser Prozess vom „Ich-Men­schen“ zum „Auch-Du-Menschen“ zieht sich über Jahrzehnte hin, oft misslingt er gänzlich. Doch erst wenn ein Mensch gelernt hat „über seinen eigenen Bauch hinaus zu denken“ und in ihm das Bedürfnis ge­wachsen ist, sich um andere zu kümmern und für sie zu sorgen, gilt er nach unserem Verständnis als er­wachsen. Erwachsenwerden ist uns ein anderes Wort für Sozialwerden.

 

Die deprimierende Irrlehre, dass der Mensch böse sei, stammt entweder von Priestern, die damit ihren Stand, oder von weltlichen Herrscher, die damit die Notwen­digkeit ihrer Ordnungsfunktion zu rechtfertigen su­chen und damit ihre Existenz.

 

Auch der oft angestrengte Vergleich mit den Raubtie­ren ist falsch, denn diese sind nicht im menschlichen Sinne böse, sie töten nur um sich zu erhalten, während der instinktarme und von seinesgleichen verwirrte Mensch auf dieser Erde oft wie ein Rasender wütet und aus niederen Beweggründen tötet.

 

Wir Echraner wissen, dass eine freundliche Umwelt, frei von Not und Ungerechtigkeit und vor allem frei von religiösem und politischem Fanatismus, freundliche Menschen hervorbringt, die zwar immer noch keine Lämmer sind, aber zu solchen wollen wir unsere Kinder auch nicht erziehen.

Wer dagegen in unsicherer, barbarischer Umgebung lebt, in der menschliche Haie und Wölfe lauern, was bleibt dem übrig, als mit ihnen zu reißen und zu heulen? Wer mit kalten Wintern lebt, versucht seine Höhle mit möglichst vielen Vorräten zu polstern. Ebenso handelt, wer in Furcht vor sozialer Not lebt oder vor Krankheit und Hilflosigkeit im Al­ter. Davor suchen sich die Menschen durch Besitz und Reichtum zu schützen, hier liegt zumindest ein Grund für die menschliche Unmäßigkeit.

Wer sich dagegen vor keinem Winter (auch keinem sozialen!) und vor keinen materiellen Unbilden fürch­ten muss, welchen Grund hätte der zum Raffen und zum Horten? Wobei hier überhaupt nicht das Vorsor­gen und Sammeln kritisiert werden soll, denn das ist in einem gewissen Umfang sinnvoll und nötig. Be­denklich wird es erst, wenn es in keinem Verhältnis zum Anlass mehr geschieht, wenn Geld und Wucher ins Spiel kommt und in der Folge Machtpolitik und Para­sitentum. Wohin das führt, kann ja überall außerhalb Echras verfolgt werden.

 

Unsere ursprüngliche Natur kann man auch an unse­rem Körper und den Organfunktionen ablesen, die sich in für uns unfassbaren Zeiträu­men entwickelt haben. Was sind dagegen die zwanzig oder dreißigtausend Jahre, in denen sich der Mensch an den Gebrauch von Werkzeugen und Feuer gewöhnt hat? Erst recht, wenn man die kurze Zeit unserer Zivilisation zu Grunde legt. Dieser Zeitraum ist viel zu kurz, um biologische Notwendigkeiten zu verändern.

Schaut euch unsere Hände an, mit ihren geschickten Fingern! Sie eignen sich hervorragend zum Pflücken und Sammeln von Früchten, Blättern und Wurzeln und nicht zum Fangen, Töten und Aufbrechen von Tierkörpern! Auch unsere Zähne sind von denen der Raubtiere grundverschieden. Selbiges gilt für unseren Verdauungskanal, der ein vielfaches länger ist, als der von Fleischfressern, der eine andere Flora besitzt, an­dere Verdauungssäfte, andere Enzyme usw.

Auch wer durch Gewöhnung keinen Ekel beim Ver­zehren von erhitzten und kunstvoll zubereiteten Tier­leichen empfindet – die Empfindungen bei einem Be­such in einem Schlachthaus und in einem Obstladen sind normalerweise sehr aufschlußreich. Wo graut es einem und wo läuft einem das Wasser im Munde zusam­men? Falls euch letzteres im Schlachthaus passieren sollte, solltet ihr euch vorsichtshalber in fachärztliche Behandlung geben...

 

Erst mit dem Gebrauch von Werkzeugen und der Be­herrschung des Feuers ist der Mensch zu einem künst­lichen Raubtier geworden. Diese Tatsache ist bemer­kenswert genug, zeigt sich doch auch hier die mensch­liche Unspezialisiertheit und seine Ent­wicklungsmöglichkeiten. Der Mensch ist bildsam und man kann ihn bei­nahe in jede Form prägen, zu allem abrichten, selbst zum Morden. Doch unsere ursprüngliche Natur ist eine andere. Gerade die Tatsache, dass der Mensch so entsetzlich grenzenlos sein kann, in seinem Töten und seiner Zerstörungswut, zeigt, dass die Natur ihn dafür nicht vorgesehen hatte. Wäre er ein wirkli­ches Raubtier, würde er wie diese nur aus Hun­ger oder Angst töten.

Hier muss angemerkt werden, dass es aber ein Irrtum ist, Aggressivität nur mit den Raubtieren in Verbindung zu bringen. Auch Pflanzenfresser gehen, wenn es um Rang und Revier geht, alles andere als freundlich mit­einander um und schlagen, picken oder stoßen sich zum Krüppel. Dieses Erbe liegt uns vermutlich näher als das der Raubtiere.

 

Wir „künstlichen Raubtiere“ sind eine großartige und gefährliche Spielart der Natur, die ihr sozusagen mit einem Rad aus den Schienen gesprungen ist, wobei uns gerade dieser Umstand letztlich zu Menschen gemacht hat. Ein Zurück gibt es nicht mehr, was aber nicht heißt, das es nicht aus vielerlei Hinsicht vernünftig wäre, wenn wir uns etwa unserer angestammten Ernährung wieder an­nähern, unserem Körper und unserer Seele zuliebe und – dass wir auch unsere tierischen Reste akzeptie­ren und in eine neue Ethik einfließen lassen und sie unseren hehren Träumen gleichstellen.

 

Über unsere Kinder

Allen Geschöpfen ist die Erhaltung der Art Zweck und Ziel des Daseins, auch für uns Menschen gilt das entsprechend. Kinder sind daher unser wertvollstes Gut und ihre Betreuung und Förderung unsere vor­nehmste Aufgabe. Welchen Sinn hätte ohne sie un­ser Streben? Unsere Zeit Kindern zu widmen, sie zu beschützen und zu leiten, gilt uns in Echra deshalb als das Erfüllendste allen menschlichen Tuns.

 

Wenn wir hören, dass sich die Eltern in eurer Zivilisa­tion wenig um die Kinder kümmern und oft schon ih­re Babys in Kinderkrippen zur Aufbewahrung geben, weil sie finanzielle Not zur Berufstätigkeit zwingt oder weil ihnen das Erwerben von Luxusgütern wichtiger ist, dann können wir das nicht begreifen. Ebenso wenig, dass sogar wohlhabende und gebildete Eltern ihre Arbeitskraft ohne Not gegen Entgelt ver­kaufen, weil sie ihr Elternsein als unbefriedigend empfinden. Sie sprechen dabei oft vom Recht auf eine berufliche Karriere und von ihrem Recht auf „Selbst­entfaltung“, doch wo bleibt das Recht ihrer Kinder? Das Wertvollste was sie haben, geben sie in fremde Hände und selber verbringen sie ihre Zeit teilweise mit den unsinnigsten, ja abartigsten Beschäftigungen. Sie verkaufen sich und ihre Zeit für Geld, mit den sie dann ihren Kindern Dinge kaufen, statt sich ihnen sel­ber zu widmen.

Eine derartige Verschiebung der natürlichsten Werte erscheint mir Ausdruck einer schlimmen Verirrung zu sein. Doch wenn man dann hört, dass die Väter ihre Familien den ganzen Tag alleine lassen, begreift man, dass die Frauen in ihrer Isolation verzweifeln und ihr zu entfliehen suchen, zumal es in eueren wuchernden Städten keine Großfamilien mehr gibt und auch die Freunde weit verstreut leben.

Kinder alleine können kein Ersatz für soziale Kontak­te sein, können das Bedürfnis nach Begegnung mit anderen Menschen nicht stillen. Zudem wird in einer mate­rialistischen Gesellschaft, der es nur um Haben und Kaufen geht, der Wert der Kinderbetreuung kaum an­erkannt. Nur was sich beziffern lässt, gilt als Wert! Den Kindern ergeht es nicht anders als der Natur. Eine Zivilisation, die sich selber ihre Brunnen und die Atemluft vergiftet, hat natürlich auch das Gefühl für den Wert ihrer Kinder verloren.

 

Auch wenn es bei uns in Echra keinen Markt gibt, auf dem Waren und Menschen für Geld gehandelt wer­den, so wissen wir doch, dass ein Zuviel von etwas dieses im Wert sinken lässt, dies Prinzip gilt nicht nur bei Waren. Auch ein Zuviel an Menschen führt zu einer Abwertung des einzelnen. So wie in dünnbesie­delten Gegenden der einzelne viel und in den Massen­quartieren der Städte wenig gilt, so verlieren auch Kinder im Bewusstsein der Gesellschaft an Wert, wenn sie wegen ihrer großen Zahl nicht mehr als Kostbarkeit, sondern vielleicht sogar als Bedrohung von allzu begrenzten Revieren gesehen werden.

 

Um die große Wertschätzung für Kindern zu erhalten, sie auch optimal fördern zu können und um auch nicht das ökologische Gleichgewicht zu gefährden, haben echranische Familien selten mehr als zwei oder drei Kinder, wodurch die Gesamtbevölkerung in etwa gleich bleibt. Würde diese wachsen, müss­ten nach und nach die Wälder gerodet und der Le­bensraum der wildlebenden Tiere eingeschränkt wer­den. Dies möchten wir vermeiden, denn die Welt gehört nicht nur den Menschen.

 

Über Erziehung und Lernen

So wie Pflanzen zum Gedeihen Licht, Wasser, Nähr­stoffe und Wärme benötigen, so brauchen Menschenkin­der - sollen sie einmal liebevolle und verständige Er­wachsene werden – ebensolche Vorbilder. Edle Grund­sätze und schöne Reden sind wertlos, wenn sie nicht auch vorgelebt werden. Erziehen kann man also nur dadurch, in dem man sich selber erzieht. Doch sollte jedem Erzieher bewußt sein, dass er nur ein Baustein in der Entwicklung eines Kindes sein kann, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

 

Das echranische Bildungssystem unterscheidet sich von dem eueren in wesentlichen Punkten. Schulen, wie ihr sie kennt, gibt es bei uns nicht. Es gibt weder Zensuren noch bezahlte Lehrer. In der Folge auch kein Strebertum und keine vordergründige Anpas­sung, kein erzwungenes Büffeln für Prüfungen, kein Pauken von Phrasen, Formeln und Jahreszahlen, die jeder sowieso gleich wieder vergisst und die leicht in Büchern nachzuschlagen sind.

 

Menschen müssen nicht zum Lernen gedrängt werden, denn die Neugierde gehört zu unserem Wesen wie die Vorsicht zum Hasen. Kinder trachten ganz von alleine danach, sich das anzueignen, was den Erwachsenen Vorteile verschafft und was sie zu einem menschen­würdigen Leben benötigen. Schulen spiegeln immer auch die Lebenswirklichkeit einer Kultur, dementspre­chend anders als bei euch sind sie in Echra. Nicht der angepasste Spezialist mit seinem engen Horizont ist bei uns gefragt, sondern der selbständig denkende und soziale Mensch, der sich in allen Lebensbereichen auskennt und zu­rechtfindet.

Wir kennen keine umrissenen Schulzeiten, denn wir lernen unser Leben lang. Lernen ist uns nicht weniger Grundbedürf­nis wie Essen und Trinken.

 

In eueren Schulen dagegen treibt man den Kindern diese natürliche Lust am Lernen aus, in dem man ih­nen Scheuklappen aufsetzt und sie einen zielgerichte­ten Hürdenlauf absolvieren lässt, bei dem sie alles ignorieren müssen, was links und rechts der Strecke liegt. Zudem werden in der Hauptsache solche Er­kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt, die Menschen nicht ohne weiteres von sich aus lernen würden, also fremdbestimmten Stoff, den beispielsweise die Wirt­schaft für ihre maßlose Produktion braucht, Stoff, mit dem sich der Staat legitimiert usw. Nicht der gebilde­te, zur Improvisation fähige und in der Lebenskunst bewanderte Mensch ist das Ziel, sondern der angepasste Streber, der an Still­sitzen und Vergessen seiner eigenen Wünsche und Antriebe gewöhnt wurde und der alles weiß, nur nicht, was für ein autonomes Leben nötig ist. In eueren Schulen werden die Kinder für die arbeitsteilige und egoistische Gesellschaft abgerichtet und ihre Köpfe mit unzusammen­hängenden Fakten gefüllt, bei denen ein Bezug zum wirklichen Leben die Ausnahme ist. So denken die Menschen schließlich in Schablonen, messen in frem­den Maßstäben und taugen - so verkrüppelt wie sie nun sind - für den verrückten Berufsalltag, in dem sie nichts hinterfragen und nur wie die sie umgebenden Maschinen funktionieren sollen.

Euere Schulen sind also Dressuranstalten, die es alleine deswegen gibt, weil euer Wirtschaftssystem einen bestimmten Ausbildungsstand für seine Produktion benötigt, einschließlich der Bereitschaft dazu und jener sich unterzuordnen. Mit dem fremdbestimmten Lernstoff werden ja auch Geisteshaltungen, fremde Wertmaßstäbe, engstirniges formales Denken und überwiegend schlechte Verhaltensmodelle von lustlo­sen Lehrern verfrachtet, auf die wir in Echra keinen Wert legen. Uns erscheint daher die Schulpflicht und die dahinterstehende Geisteshaltung als Willkür und Gängelung, ja, als dreister Diebstahl, bei dem nicht irgendwelche ersetzbaren Dinge weggenommen werden, sondern die eigenen Kinder.

Wir verstehen auch nicht, wie ihr auf die große Freude verzichten könnt, eueren Kindern Grundfertigkeiten wie Lesen, Schreiben usw. selber beizubringen.

Ich weiß, dass euere Schulpflicht in Zeiten großer Unwis­senheit und harter Ausbeutung einmal ein bedeutsa­mer Fortschritt gewesen ist. Doch auch noch nach hundert Jahren scheinen die Menschen nicht willens und gebildet genug, als dass man ihnen die Entwick­lung ihrer Kinder anvertrauen könnte, nur die Pflichtschule hebt auch die benachteiligten unter ih­nen auf ein Mindestniveau. Doch uns Echranern ist auch dieser Begriff „Niveau“ suspekt, denn wir wollen die Menschen nicht nivellieren und nicht messen.

 

Jeder Echraner ist im Alltag zugleich Lehrer und Schüler. Auch die Kinder machen dabei keine Aus­nahme, die Jüngeren lernen von den Älteren. Wer et­was lernen will, wendet sich an seine Eltern, Geschwi­ster, Verwandten, Freunde oder Nachbarn, oder auch an seine Kinder, wenn die etwas können, was einem fehlt. Es gibt wohl nur wenige Echraner, die nicht ge­rade einem anderen etwas beibringen oder sich etwas beibringen lassen. Die Vielfalt unserer Bildungsangebote ist entsprechend. Angeboten wird, was nachgefragt wird.

Vermutlich ist der Schlüssel zu diesem allgemeinen Lernhunger im eigenen Antrieb zu suchen, denn wer etwas lernen will, weil es ihn danach drängt, lernt mit unvergleichlich größerer Intensität, als dies in Schulen üblich ist, wo Lernstoff angeboten wird, zu dem in al­ler Regel der Bezug fehlt und der nur des schulischen Fortkommens wegen, oft mit großem Widerwillen ge­lernt wird.

Unsere Lernangebote sind auch weniger kopflastig wie bei euch. Handwerkliche Fertigkeiten sind uns grad so wichtig wie theoretische. Viele Arbeiten lernen wir einfach dadurch, weil wir mit ihnen aufwachsen: wie Nahrung angebaut und zubereitet wird oder wie Gebrauchsgegenstände gefertigt werden. Wir lernen Holz zu bearbeiten und daraus Möbel, Werkzeuge, Hütten und Häuser zu bauen. Wir lernen Körbe zu flechten, Gefäße aus Lehm zu formen und zu brennen, Wolle zu spinnen und daraus Kleidung herzustellen. Wir lernen zu nähen, zu stricken, zu weben, zu knüp­fen und was es sonst noch an nützlichem Handwerk so gibt.

 

Nicht zu kurz kommen auch künstlerische Fähigkeiten wie Musizieren, Singen, Theaterspielen, Modellieren, Malen, oder auch nur die Fähigkeit, mit offenen Au­gen die Welt zu betrachten und zuzuhören.

 

Und trotz der Vielfalt unserer Tätigkeiten finden wir durchaus auch noch Zeit zum Faulenzen. Vielleicht, weil wir uns von der Neuerungs- und Verbesserungs­sucht befreit haben und wir das, was sich bewährt hat, lassen wie es ist. Darum ist auch derjenige, der es ver­steht nur soviel zu tun, wie nötig, in Echra gut angese­hen. Wer dagegen ständig durch die Gegend hetzt und meint, noch dieses oder jenes unbedingt zu seinem Glück zu brauchen, der wird bemitleidet, denn er gilt uns von einer schlimmen Krankheit befallen.

 

Doch wieder zum Lernen.

Wesentlich erscheint mir dabei, dass in Echra Theorie und Praxis nicht getrennt sind. Alles steht miteinander in Beziehung, hat Ursachen und Folgen, nichts wird isoliert vermittelt. Problemlöseverhalten, Improvisie­ren, Partnerschaftlichkeit und die Fähigkeit zur Ko­operation erwachsen unserem Alltag grad so selbstver­ständlich, wie die Achtung gegenüber Mitmenschen, Tieren und Pflanzen.

 

Jedes unserer Dörfer besitzt ein Gemeinschaftshaus, das auch kulturelles Zentrum ist. In ihm ist eine Bibliothek untergebracht und es finden Ver­anstaltungen statt wie Konzerte, Theateraufführungen, Filme, Tanz, Vorträge und Gesprächs­runden. Die Wände der Räume werden - etwa im mo­natlichen Wechsel - mit bildnerischen Arbeiten ein­heimischer oder fremder Künstler geschmückt. Die kulturellen Kontakte zwischen den Dörfern sind über­aus rege. Es ist deswegen keine Anmaßung, wenn ich uns Echraner als gebildetes Volk bezeichne, dem die schönen Künste ebenso am Herzen liegen, wie die gro­ße Kunst der Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit und des Nahrungsanbaues und - vor allem: die Kunst glücklich zu leben!

 

Der Mensch besteht eben aus Kopf und Händen. Wo nur das eine gefördert wird, verkümmert das andere. Hier ist Gleichgewicht nötig, sonst entstehen Men­schen mit Schlagseite.

 

Über das Zusammenleben

In Echra gibt es keine Städte, weil Menschen über­schaubare Strukturen brauchen. Städte sind steinge­wordene Arbeitsteiligkeit und Entfremdung, Nährboden für Parasitentum, Künstlichkeit und Anonymität. Sie sind ein lebensfeindlicher, hässlicher, materialisierter Irrweg, sie machen den Menschen zur Ameise. An­onym und in hunderterlei Fesseln, Abhängigkeiten und Unnatur verstrickt, spiegelt sich bald in seinem Kopf das unwirtliche Äußere, das ihn umgibt.

 

Wir Echraner wohnen deswegen in Dörfern mit nur wenigen hundert Einwohnern, diese Größenordnung hat sich bewährt.

Unsere Dörfer sind meist Streusiedlungen. Die Wohn­häuser stehen auf eigenem Land, das sowohl der Selbstversorgung als auch dem „gesunden“ Abstand von den Nachbarn dient. Daneben gibt es Gemeinschaftsflächen, in der Hauptsache Felder, Wald und Weiden. Doch darüber mehr im Kapitel über den Landbau.

 

Eine zweite verbreitete Wohnform sind die Kooperati­ven, in denen zwar auch jede Familie ein eigenes Haus bewohnt - meist um einen baumbestandenen Park ge­reiht - in der alle Agrarflächen und Werkstätten aber gemeinschaftlich bewirtschaftet werden. Das geregelte Leben dort ist nicht jedermanns Sache. So man­cher fürchtet um seine individuelle Freiheit und mag sich der Gemeinschaft nur anschließen, wo es die Not­wendigkeit gebietet. Es gibt aber genug Echraner, die nirgendwo anders leben möchten.

 

Sowohl Dorf wie Kooperative haben ihre Vorzüge, die - je nach Einstellung - auch als Nachteile erscheinen mögen. So bringt das räumlich engere Zusammenle­ben in den Kooperativen größere soziale Nähe, aber auch den Zwang sich über hundert Dinge abzustim­men. Die Arbeitsteilung bringt einerseits Verpflich­tung, andererseits aber auch einen Zeitgewinn, da alle anfallenden Arbeiten im Wechsel reihum verteilt wer­den.

 

Aus der Notwendigkeit Rohstoffe zu fördern und zu verarbeiten, gibt es in Echra noch eine dritte Wohn­form, vergleichbar etwa den Kooperativen, wir nennen sie „Zeitdörfer“. Hier leben vorwiegend junge Leute für begrenzte Zeit, meist für etwa fünf Jahre. Die Zeitdörfer fördern Rohstoffe oder stellen Güter technischer Art her, die in den Dörfern nicht, oder nur sehr um­ständlich gefertigt werden könnten.

 

Durch diesen Dienst der jungen Echraner können wir alle mit dem Nötigen versorgt werden. Die Zeitdörfer sind bei den jungen Leuten auch sehr be­liebt. Zum einen ist das Zusammenleben in einer Ge­meinschaft mit Gleichaltrigen eine reizvolle Sache (auch die Partnersuche wird erleichtert), zum anderen kommt es zur Abnabelung vom Elternhaus, was ja für die Entwicklung jedes Menschen sehr wichtig ist.

 

Manche ältere Echraner empfinden das intensive und lockere Gemeinschaftsleben mit den jungen Leuten als sehr angenehm und bleiben ein Leben lang in den Ko­operativen, andere kehren immer wieder auf Zeit dort­hin zurück.

 

Naturgemäß ist bei uns das Verhältnis zwischen El­tern und Kindern recht freundschaftlich, daher auch von Dauer. Die Beziehungen bleiben auch während der Dienstzeit in den Zeitdörfern erhalten. Später sie­deln sich die verheirateten Kinder gern wieder in der Nähe der Eltern an, zumal die Versorgung der Eltern im Alter selbstverständlich ist. Doch sollte ich hier vielleicht darauf hinweisen, dass in Echra Greise, die gänzlich versorgt und gepflegt werden müssen, eher selten sind. Die meisten Echraner bleiben bis ins hohe Alter recht rüstig, vermutlich wegen ihres bewegungs­reichen und stressarmen Lebens in der Natur. Auch die Eingebundenheit in die Gemeinschaft und die all­gemeine Wertschätzung der älteren Menschen spielen wohl eine Rolle. Jeder kann sich bis zu seinem letzten Tag nützlich machen und niemand wird wegen seines Alters ausgegrenzt.

 

Nach dem Tod des Partners schließen sich Einzelnste­hende gerne zu Wohngemeinschaften zusammen, oder sie ziehen zu ihren Kindern. Die Enkel - soweit vor­handen und im entsprechenden Alter - übernehmen dann Haus und Land der Großeltern.

 

Über Partnerschaft und Sexualität

Der menschliche Körper ist die Voraussetzung, quasi das Instrument  unserer Existenz. Ein gutes Leben le­ben bedeutet, alle Töne dieses Instrumentes zu spielen. Einige davon zu tabuisieren, erscheint uns wenig ver­nünftig. Erst recht, wenn es sich um jene Klänge han­delt, die uns die größte Lebensfreude schenken kön­nen.

 

Die menschliche Art kann als einzige frei über Sexua­lität verfügen, bei ihr hat sich die körperliche Vereini­gung vom Akt zur Arterhaltung zum jederzeit erfahr­baren lustvollen Tun gewandelt. So wurde sie zu einer Quelle von Glück, die selbst trostlose Zeiten versüßen kann. Sexualität als niedrig oder tierisch zu bezeich­nen, wie es bei euch manche Religionen tun, ist ab­surd, denn Tiere vereinigen sich nur zur Arterhaltung und die Geschlechter sind außerhalb der Paarungszei­ten nicht aneinander interessiert, wobei manche Primaten hier eine Ausnahme machen. Doch Erotik und Liebe gibt es vermutlich nur bei uns Menschen.

 

Die Natur hat uns dieses Geschenk sicher nicht ohne Grund gemacht, vermutlich steht es in Beziehung zu der langen Entwicklungszeit der Menschenkinder. Zärtlichkeit und Wollust bindet die Menschen anein­ander. Sich hier nur auf nützliche Erwägungen des Menschenverstandes oder gar auf menschengemachte Moral zu verlassen, war der Natur wohl eine zu unsi­chere Basis. Gemeinschaft ist für die Kinderaufzucht, damit für die Erhaltung der Art, von entscheidender Bedeutung. Kinder brauchen zu ihrer Entwicklung verlässliche Bezugspersonen und hier ist körperliche Zuneigung und Begehren ein bewährter Kitt.

 

Manche Echraner behaupten, die menschentypische Erotik ende eigentlich beim Koitus, da diesen auch die Tiere vollziehen. In jedem Fall gilt uns die körperliche Vereinigung nur als eine Möglichkeit sexuellen Bei­sammenseins, wir schätzen alle Formen von Zärtlich­keit.

 

Auch wenn es in Echra keine Ehe gibt, leben die mei­sten Erwachsenen doch in festen Zweierbeziehungen, weil diese sich – trotz aller immer wieder auftretender Probleme – am besten bewährt haben. Aber es gibt auch gelegentlich Wohngruppen, in denen die Partnerbeziehungen zumindest nach au­ßen nicht klar ersichtlich sind und wo die Kinder zu allen Männern „Vater“ und zu allen Frauen „Mutter“ sagen. Doch sind solche Familienstrukturen eher sel­ten, denn die dauerhafte Zweierbeziehung scheint dem menschlichen Bindungsbedürfnis doch am meisten zu entsprechen. Abgesehen von medizinischen und eigentumsrechtlichen Problemen, die sich in festen Part­nerbeziehungen offensichtlich am besten lösen lassen, sind es auch solche der Arbeitsorganisation und der Kinderaufzucht. Wechselnde Partnerschaften erzeu­gen, wie sich immer wieder zeigte, einen psychischen Dauerstress, dem die meisten Menschen nicht ge­wachsen sind und der sich auch auf die Versorgungs­sicherheit der Gemeinschaft negativ auswirkt.

 

Vom Sterben

Liegt ein Echraner im Sterben, ist es üblich, dass ihn Nachbarn und Freunde besuchen und ihn in seiner schweren Stunde nicht alleine lassen. Wir hören dem Sterbenden zu, wenn er etwas sagen will, schweigen mit ihm, wenn er schweigen will und erzählen, singen oder musizieren, wenn er das wünscht. Natürlich las­sen wir ihn auch alleine, wenn er alleine sein möchte.

Ist das Sterben von Schmerzen begleitet, so lindern wir diese durch die Gabe von entsprechenden Mitteln, die der Koordinator verwahrt hält. Würde ein schwer Leidender, für den keine Aussicht auf Genesung be­steht, wiederholt um die Erlösung von seinen großen Qualen, durch ein sein Leben beendendes Gift bitten, so müsste darüber ein Rat aus Verwandten und Freun­den mit einem einstimmigen Urteil entscheiden. Derartige Fälle sind aber sehr selten.

 

Unsere Verstorbenen begraben wir am Rande des Ur­waldes, von dem unsere Dörfer umschlossen werden. Zur Erinnerung an die Toten wird auf das Grab ein Stein gelegt, den sich der Verstorbene schon zu Leb­zeiten selber ausgesucht hat und der zum Sitzen und Meditieren einlädt.

Pedantisch gepflegte und durch Umrandungen abge­grenzte Gräber, gibt es bei uns nicht. Die Begräb­nisstelle wird bald Teil der sie umgebenden Natur.

Manche Echraner wünschen verbrannt zu werden. Nicht selten errichten sie sich ihren Scheiterhaufen noch zu Lebzeiten. Sie finden den Gedanken tröstlich, mit dem Rauch des Feuers in den Himmel zu steigen und sich über die ganze Welt zu verteilen. Ihre Asche verstreuen die Angehörigen nach dem Wunsch des Toten am Waldrand oder in ein Gewässer.

Bei einem Begräbnis versammeln sich die Dorfbewoh­ner um das Grab, das sie zuvor gemeinsam ausgeho­ben haben. Der Koordinator des Dorfes erzählt dann vom Leben und Wirken des Verstorbenen, Freunde spielen seine Lieblingsmusik, lesen aus seinem Lieb­lingsbuch und tragen einen, von dem Verstorbenen noch zu Lebzeiten verfassten Abschiedsbrief vor. Darin erzählen sie etwa von Freude und Leid, bedanken oder entschuldigen sich bei den Verwandten und Freunden und manchmal formulieren sie ihre Hoffnungen und Wünsche an die Nach­welt.

Danach füllen die Ver­sammelten gemeinsam das Grab oder ent­zünden den Scheiterhaufen.

Nach dem Begräbnis versammeln sich die Dorfbewoh­ner im Gemeinschaftshaus zum Totenmahl, zum Trost für die Angehörigen und zur Ehrung des Toten. Nach­dem man gegessen hat, wird von angenehmen Bege­benheiten erzählt, die man mit dem Verstorbenen hat­te.

Niemals endet eine Totenfeier, ohne dass den Angehö­rigen Solidarität zugesichert wird. Wenn nötig, wer­den auch gleich konkrete Hilfsmaßnahmen bespro­chen. Dies alles macht hoffentlich die große Wert­schätzung deutlich, mit der wir einander noch über den Tod hinaus behandeln.

 

Über echranische Demokratie

Echra ist ein demokratisches Land, weil Demokratie ein brauchbares Werkzeug ist, jene Entscheidungen zu treffen, die alle angehen. In private Angelegenheiten durch Mehrheitsentscheidungen hin­ein zu bestimmen, ist bei uns völlig unvorstellbar. 

Wir übertragen unsere demokratischen Rechte auch nicht per Kreuzchen auf einem Stimmzettel an Be­rufspolitiker und Parteien – beide gibt es in Echra nicht – und hoffen dann über Jahre ohnmächtig, dass diese ihre Macht nicht missbrauchen. Wir dagegen bestimmen unsere Geschicke selber, denn unsere Demokratie ist nicht repräsentativ sondern direkt. Über alle Fragen des dörflichen Zusammenlebens wird gemeinsam in regelmäßigen Vollversammlungen be­raten und entschieden. Mehrheitsentscheidungen sind nur gültig, wenn keine Minderheiten dadurch geschä­digt werden. Es muss nach Lösungen gesucht werden, die alle zufrieden stellen oder mit der zumindest alle leben können.

 

Alle fünf Jahre werden in den echranischen Dörfern Koordinatoren gewählt, die höchstens ein zweites Mal berufen werden können. Bei jeder Neuwahl soll ein Geschlech­terwechsel stattfinden.

 

Die Koordinatoren haben die Aufgabe dörfliche Ab­läufe abzustimmen und die Dorfgemeinschaft nach au­ßen zu vertreten. Es gilt als große Auszeichnung in dieses Amt gewählt zu werden. Gerne werden Persön­lichkeiten dafür bestimmt, die im Alltag durch Be­scheidenheit und Warmherzigkeit auffallen. Großspre­cherische Wichtigtuer und Blender - soweit es solche bei uns überhaupt gibt - können sicher sein, niemals zum Koordinator gewählt zu werden.

 

Wir sehen unsere Koordinatoren als eine Art „Väter“ oder „Mütter“ unseres Dorfes. Ihre Aufgabe ist es, die notwendigen gemeinschaftlichen Arbeiten abzustimmen, den einzelnen ihren Anteil am Gemein­schaftsbesitz zuzuteilen, Bestellungen an die Zeitko­operativen weiterzuleiten und die gelieferten Güter zu verteilen. Sie organisieren das Bildungsprogramm, be­siegeln Lebensgemeinschaften, registrieren Geburten und Todesfälle und haben die Aufgabe in Kon­flikten zu vermitteln. In politischen Angelegenheiten sind sie an die Beschlüsse der Vollversammlung ge­bunden.

 

Die Mitbestimmung über die Landespolitik erfolgt durch eine Art Fragebogen, auf dem anstehende Sachthemen aufgelistet und der Bevölkerung vorgelegt werden. Diese dörflichen Meinungsbilder werden durch die Koordinatoren in die Landespolitik einge­bracht und umgesetzt. Letztere wird von zwölf Vertre­tern besorgt, die Koordinatoren aus ihren Reihen für eine Amtszeit von fünf Jahren wählen, übrigens wie­der halb Männer, halb Frauen. Diese Gewählten ste­hen dann in den Dörfern nicht mehr zur Verfügung und ziehen für die Dauer ihrer Dienstzeit gemeinsam in eine spezielle Kooperative, von der sie bei ihrer Aufgabe unterstützt werden.

 

Bei uns fängt Demokratie also dort an, wo sie bei euch aufhört: im täglichen Leben. Wenn ich unsere Demo­kratie mit dem Polittheater bei euch vergleiche - wo sich Politiker und Parteien alle paar Jahre anpreisen wie Zahnpasta oder Seifenpulver, sich wie Schauspie­ler gebärden und oft (nach fremdem Drehbuch spie­lend), ihre Gegner verleumden und erniedrigen, um selber größer zu wirken - dann bin ich immer sehr er­leichtert, dass es bei uns anders zugeht.

 

Ich bedauere Wähler, die sich immer wieder durch die Phrasen und Versprechungen der Politiker verführen lassen und dann nach der Wahl erleben, wie sich die Gewählten als gekaufte Agenten mächtiger Interessen­gruppen entpuppen. Zweifellos gibt es auch bei euch ehrliche Politiker, die in bester Absicht handeln, doch wie oft können die sich über die Parteidisziplin und die Fraktionszwänge hinwegsetzen und als einzelne etwas bewegen?

 

Der Wähler kann immer nur ein von den Parteien ge­schnürtes Bündel wählen. Was bleibt ihm, als notge­drungen sein Kreuzchen vor die Gruppierung zu set­zen, die ihm als das kleinere Übel erscheint? Da dies mit Volksherrschaft wenig zu tun hat, erscheint uns die Bezeichnung „Demokratie“ dafür ein Etiketten­schwindel zu sein. Wir lehnen die Parteiendemokratie ab, weil Parteien „parteiisch“ sind, also erst einmal ih­re Organisation vertreten, deren Interessen und Über­zeugungen.

 

Bei uns gibt es keine Parteien, also auch keine Klüngelein, keine Ideologien, keine Fraktionszwänge, keine Lobbykratie, keine Fensterreden und keinen Korpsgeist. Wir wählen den Nachbarn unse­res Vertrauens zum Koordinator, entscheiden über die Sachfragen in den dörflichen Vollversammlungen und den schriftlichen Abstimmungen und behalten so alle Fäden mit in der Hand. Es gibt keinen Grund, warum ähnliches nicht überall funktionieren sollte. Doch von „direkter Demokratie“ wollen Parteien natürlich nichts wissen, denn damit würden sie sich selbst entmachten.

 

Die Rechten spielen das Spiel mit der parlamentari­schen Demokratie sowieso erfahrungsgemäß nur so­lange, wie es sich wirtschaftlich rentiert. Ist dies nicht mehr der Fall, lassen sie ihre oft religiös getarnte Lar­ve fallen und zeigen ihr autoritäres Gesicht. Das Volk schätzen sie nur, solange es sich von ihnen füh­ren lässt. Muckt es offen gegen sie auf, nennen sie es gern „Pöbel“. Und dass dieser das Sagen haben soll, ist ihnen eine grauenhafte Vorstellung, denn sie ste­hen auf Eliten, womit sie sich selber meinen. Insge­heim wissen sie aber wohl genau, dass die Bevölke­rung in vielen Punkten viel weiser abstimmen würde, als es der privaten Wirtschaft angenehm sein könnte. Oder glaubt jemand ernsthaft, dass zerstörerische Großprojekte wie Atomanlagen, Autobahnen, Groß­flughäfen und der ganze Rüstungswahnsinn noch durchzusetzen wären? Nie und nimmer! Darum fürch­ten die Rechten die direkte Demokratie wie der Teufel das Weihwasser...

Und warum sind die Linken gegen direkte Demokra­tie? Einmal wohl, weil sie auch nur in den Kategorien von Lohnerhöhungen und Wirtschaftswachstum den­ken, sie sind ebenso am Haben orientiert, wenn auch mit anderen Vorzeichen. Sie glauben ebenso an seligmachende Technik, an unendliche Ausbeut­barkeit der Erde und erwarten sich das Heil im Kon­sum von Waren. Sie haben wohl Gerechtigkeit und Wohlstand für alle auf ihren Fahnen stehen (was sie erst ein wenig sympathischer macht), doch sind ihre Triebkräfte Neid und Gier wie bei den Rechten. Sie lehnen zwar empört den Begriff der Eliten ab, begrei­fen sich aber gleichzeitig selber als Avantgarde, die allein weiß, wo es langgeht und was gut für die Menschen ist. Gelegentlich führen sie als Begrün­dung ihrer Ablehnung von direkter Demokratie die Sorge vor der Verführbarkeit der Menschen ins Feld. Richtig ist, dass eine direkte Demokratie nur funktio­nieren kann, wenn Parteipropaganda und Demagogie durch sachliche Aufklärung ersetzt wird, denn eine Demokratie braucht sachkundige Bürger.

 

In Echra werden deshalb über anstehende Fragen grundsätzlich Informationsversammlungen abgehal­ten, in denen die verschiedenen Ansichten zu einem Thema gegenübergestellt werden. Wer sich dennoch nicht entscheiden kann oder sich zu informieren ver­säumt, enthält sich bei der Abstimmung beim entspre­chenden Punkt seiner Stimme oder urteilt nach dem Gefühl.

Früher haben wir die Teilnahme an Abstimmungen vom Besuch der Informationsveranstaltungen abhän­gig gemacht. Doch diese Regelung hat sich als über­flüssig erwiesen, da es für Echraner keine Prestigefra­ge ist, so zu tun als wisse man alles. Wer sich irgend­wo nicht auskennt, überlässt die Entscheidung eben denjenigen, die sich damit befasst haben.

 

Ein wichtiges Werkzeug von Demokratie ist auch in Echra das geschriebene Wort. Doch ist bei uns die öffentliche Meinung nicht nur die Meinung derje­nigen, die sich ihre zu veröffentlichen leisten kön­nen. Wir schätzen auch in diesem Bereich keine Ar­beitsteilung und denken lieber selber! So sind echranische Zeitungen immer die Zeitungen der Echraner. Jedes Dorf bringt alle paar Wochen eine Zeitung heraus, in der alle Artikel von den Bewohnern verfasst werden. Eilige Informationen werden am Gemeinschaftshaus angeschlagen oder von Mund zu Mund verbreitet.

 

Neben dem lokalen Teil hat jede Zeitung einen überre­gionalen, darin werden Artikel von allgemeinem Interesse aus allen Dörfern zusammengefasst. Auf diese Weise entstehen umfangreiche Publikationen, die ei­nen regen Meinungsaustausch über das ganze Land gewährleisten.

 

Da die Zerstörung der Biosphäre nicht an nationalen Grenzen halt macht und Men­schenrechtsverletzungen oft internationale wirtschaft­liche Verflechtungen zu Grunde liegen, kann nur übernational dagegen vorgegangen werden. Voraus­setzung dafür ist verbindliches internationales Recht und die Möglichkeit seiner Durchsetzung.

Aus diesem Grunde befürwortet Echra eine internatio­nale Kontroll- und Regelungsinstanz, etwa aufbauend auf der bestehenden UN, die aber in wesentlichen Be­reichen umstrukturiert werden muss. Ein Weltsicher­heitsrat, wie er heute schon besteht und in dem die mi­litärisch und wirtschaftlich mächtigsten Länder als ständige Mitglieder versammelt sind, die nebenbei die größten Waffenproduzenten sind, wird von uns abge­lehnt. Ein ordentlicher Weltsicherheitsrat sollte aus un­abhängigen, integeren Vertretern aller Staaten gebil­det werden. Nach unserem Verständnis soll alleine diese interna­tionale Gemeinschaft weltweit über das Gewaltmono­pol verfügen und kein Land mehr Armeen und Kriegswaffen besitzen dürfen.

 

Rechtsprechung

Grundsätzlich gilt die Vorgabe, dass ein Schaden durch den Schädiger wieder gutzumachen ist. 

Konfliktfälle, bei denen sich streitende Parteien nicht einigen können, werden erst dem Dorfkoordinator vorgetragen, der sich um eine gütliche Beilegung bemüht. Nimmt eine Konfliktpartei den Rechtsentscheid nicht an oder handelt es sich um ernstere Konfliktfälle, wird die Sache einem Gericht aus ehemaligen Koordinatoren übertragen. Die Urteile orientieren sich an den Besonderheiten und Notwendigkeiten des einzelnen Falles und können sehr weitgehend sein, wenn der Schutz der Gemeinschaft dies nötig macht. Normalerweise darf ein Übeltäter seine Strafe selber vorschlagen, das Gericht kann diese aber ablehnen und von sich aus eine angemessenere festsetzen.

Da es in Echra keine Polizei gibt, wird im Bedrohungs- oder Katastrophenfall eine Dorfwehr aufgestellt.

 

Von unserer Freiheit

Die Freiheit des einzelnen ist in Echra ein hohes Gut und Bevormundung gilt uns als unsittlich. Die persönliche Freiheit hat nur dort ihre natürliche Grenze, wo die der Mitmenschen beginnt. In allen Bereichen, die kei­nem anderen schaden, gibt es für den einzelnen kei­nerlei Einschränkungen. Jeder Echraner gestaltet sein Leben, wie es seinen Bedürfnissen und Vorstellungen entspricht. So ist es in Echra undenkbar, dass sich die Gemeinschaft mit allgemeinen Regeln und Vorgaben in diesen privaten Freiheitsraum einmischt, beispiels­weise in weltanschauliche oder religiöse Dinge, das äußere Erscheinungsbild eines Menschen oder sein Verhalten. Ebenso wenig bestimmt die Gemeinschaft, wie und wo einer sein Wohnhaus zu bauen hat, es sei denn, ein Nachbar hätte davon Nachteile.

Der Alltag bringt genug Abhängigkeiten und Nöte mit sich. Die Menschen zusätzlich zu gängeln und ihnen das Leben zu vergällen, lehnen wir aus tiefstem Her­zen ab.

 

Jeder Echraner versucht für sich möglichst viel Frei­heit zu verwirklichen, etwa Freiheit von Krankheit und Schmerz durch vernünftige Lebensführung, Freiheit von Bedrohungen durch die Mitmenschen, in dem er sich freundlich und hilfsbereit verhält, Freiheit von Todesfurcht durch Beseitigen ängstigender Vorstellungen von einem Strafgericht nach dem Tod.

 

Nun wird ja auch außerhalb Echras viel von Freiheit gesprochen, doch scheint diese meist nur ein Synonym für Egoismus und Rücksichtslosigkeit zu sein. Oder wie soll man ei­nen Zustand nennen, in dem alles produziert werden darf, egal, ob es Nutzen bringt oder Schaden? Eine „Freiheit“ die es gestattet, die Atmosphäre mit irrsin­nigen Mengen von Schmutz und Gift zu verunreini­gen, die Flüsse als Abwasserkanäle zu missbrauchen, eine „Freiheit“, die den Betrieb von Atommeilern erlaubt, obwohl die Rückstände daraus noch Tausende von Jahren die Nachfahren gefährden, eine „Freiheit“, die immer neue Chemikalien in die Biosphäre abgibt, ohne die Folge- und Kombinationswirkungen zu kennen, - eine „Freiheit“, die die Ressourcen des Planeten plündert, so als ob es keine zukünftigen Ge­nerationen mehr gäbe-, eine „Freiheit“, die das Land mit Straßen durchschneidet und erlaubt, mit stinkenden und lär­menden Maschinen darauf zu rasen und jährlich Men­schenopfer in Größenordnungen hinnimmt, wie man sie von Kriegsstatistiken kennt – das sind Zerrbilder von Freiheit. Der Begriff Freiheit wird missbraucht, ja, er wird geradezu im gegenteili­gen Sinn verwandt. Wie sonst könnte man einen Men­schen „frei“ nennen, der von tausenderlei Konsum­wünschen getrieben wird, der durch Warenrausch, Gier, Ruhm- und Machtsucht, Stolz und Ehrgeiz wie eine Marionette ferngesteuert wird?

 

Über die Arbeit

In Echra gibt es keine Lohnarbeit. Wir produzieren al­so nicht unter fremdbestimmten Bedingungen fremd­bestimmte Dinge - um mit dem Entgelt daraus unseren Le­bensunterhalt zu bestreiten, sondern wir suchen mit unserer Tätigkeit unmittelbar unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Alleine deshalb gibt es in Echra nur sinnvolle Arbeit, deren Intensität und Dauer der einzelne durch seine Ansprüche bestimmt.

Arbeit, die nicht Lohnarbeit ist oder gar erzwungenes Schaffen auf Grund von Knechtschaft, wird zum selbstbestimmten Tätigsein und verliert so den Cha­rakter eines Übels.

Wir unterscheiden daher nicht Arbeit und Freizeit, grad so wie Ihr euere selbstgewählten Aktivitäten in euerer „Freizeit“ auch nicht als „Arbeit“ empfindet. Ihr kennt ja den Eifer, mit dem Menschen bei euch nach Feierabend an ihrem Haus bauen, ihren Garten bestellen und ihren nützlichen und weniger nützlichen Hobbys nachgehen, wie Handwerker und Künstler über ihren selbstgestellten Aufgaben oft selbst die Mahlzeiten vergessen...

Arbeit muss also keine Mühsal sein, im Gegenteil. Tä­tigsein, etwas Sinnvolles schaffen, eine Aufgabe erfüllen - das zeichnet die menschliche Art aus und damit definiert sich auch der einzelne Mensch und gibt seinem Leben zusätzlichen Sinn. Weil also selbstbestimmtes Tätigsein zum Menschen gehört, können wir uns überhaupt nicht vorstellen, ab einem gewissen Alter nicht mehr tätig sein zu dürfen. Wenn es unsere Ge­sundheit erlaubt, bleiben wir in vielfältiger Weise tätig bis zu unserem Tod.

 

Tätigsein ist der notwendige Gegenpol zu Entspan­nung, zu Muße, zu Schlaf. Mit sinnvoller Arbeit üben wir Körper und Geist und ernten - neben dem Arbeits­produkt - Appetit, Müdigkeit, Kraft, Geschicklichkeit und Selbstbewusstsein. Doch nur sinnvolle und aus freien Stücken ausgeführte Arbeit macht zufrieden, ausgeglichen und glücklich. Diese Zufriedenheit lässt sich mit Geld nicht zu kaufen. Ich weiß das aus eige­ner Erfahrung, denn ich habe viele Jahre außerhalb Echras Lohnarbeit verrichtet, mich und meine Ar­beitskraft für Geld verkauft und sinnlose Ar­beiten ausgeführt und so viele der besten Stunden mei­nes Lebens vergeudet. Mit dem Geld, für das ich mich wie eine Ware verkaufte, versuchte ich dann das verlorene Glück in den Kaufhäusern zu kaufen, was mir aber niemals gelang. Das echranische Tätigsein habe ich dagegen - trotz der Mühe mancher Verrichtungen – als einen Schlüssel zum irdischen Glück erfahren.

 

In Echra gibt es kaum Arbeitsteilung, denn jedes Spe­zialistentum ist uns ein Graus. Wir lehnen es ab, die Welt in Scheiben zu schneiden und jede davon einem Experten zu übertragen. Wie man bei euch sehen kann, bläst schnell ein Wind alles durcheinander und niemand kann die Teile mehr zu einem sinnvollen Ganzen ordnen, schon gar keine Experte, denn dieser hält naturgemäß sein Fachgebiet für den Nabel der Welt, was eine Gesamtsicht verhindert.

Schwer vorstellbar ist es uns, etwa an einem Fließband unter Zeitdruck nur wenige Handgriffe auszuführen und das den ganzen Tag, oft das ganze Leben lang. Dass Maschinen, die dem Menschen ja Hilfe und Werkzeug sein sollten, nun den Menschen bestimmen, erscheint uns als Perversion.

Eine schlimme Vorstellung ist es für uns auch an son­nigen Tagen in muffigen Gebäuden sitzen zu müssen und sich von einer Uhr bestimmen zu lassen. Wir Echraner stehen dagegen auf, wenn wir ausgeschlafen haben und legen uns nieder, wenn wir müde sind. Un­ser Tagesablauf ist am Sonnentag ausgerichtet. Nur im Winter bringen wir die Tage mit künstlichem Licht auf ein mittleres Maß.

Auch das ist bei euch ja anders. Die zumeist sinnlosen Tätigkeiten, von denen ihr euch tagsüber euere Le­benszeit stehlen lasst, hinterlassen keine Befriedigung, sondern nur Ruhelosigkeit. Darum sucht ihr den Feier­abend möglichst lange auszudehnen, dem Gefühl folgend, dass dies doch nicht alles gewesen sein kann. Dieses Defizit an Sinngehalt treibt euch in die Fänge der elektronischen Traumfabriken, der pro­fessionellen Zerstreuer und Zeiträuber. Euer Leben verlagert sich in die Nacht und diese wird entspre­chend zu kurz und der Wecker reißt euch am Morgen viel zu früh aus dem Schlaf. Diese unheilvolle Kettenre­aktion verlangt nach belebenden Drogen und so gesellen sich zur allgemeinen Frustration bald auch körperliche Leiden.

In Echra gibt es keine Weckmaschinen, wir haben da­für den Vogelgesang und die Sonne. Uhren und Ka­lender findet man wohl gelegentlich, sie sind aber im­mer Orientierungsmittel und niemals Peitsche. Zeit spielt bei uns eine andere Rolle - wir haben alle Zeit der Welt zur Verfügung. Hast wird man höchstens bei der Heuernte erleben, wenn ein Gewitter auf­zieht.

 

Eine gewisse Fremdbestimmung der Arbeit kennen wir aber auch, denn aus Gründen der Rationalität wer­den einige Arbeiten in Echra gemeinsam geleistet, was vom einzelnen gelegentliche Gemeinschaftsdienste ver­langt. Da diese aber jedem einsehbar durch die Not­wendigkeit bestimmt sind, gerecht verteilt werden und gemeinsam rationeller und damit in kürzerer Zeit zu schaffen sind, halten sich Unlustgefühle in Grenzen. Im Gegenteil freuen sich viele auf die gemeinschaftlichen Arbeiten, weil sie sich meist als kurzweilige und fröhliche Angelegenheit erweisen. Dennoch wird auch hier niemand gezwungen mitzu­machen, was dann aber auch Ansprüche auf die Produkte der Gemeinschaftsarbeit ausschließt. In der Praxis verläuft es meist so, dass die Dorfbewohner im Frühjahr ihr Interesse an bestimmten gemeinsamen Projekten anmelden und in der Folge an ihnen auch anteilig mitarbeiten und am Ertrag teilhaben.

 

In Echra dürfen nur Dinge hergestellt und gebraucht werden, die keine irreparablen Schäden in der Bio­sphäre anrichten und die wieder in die natürlichen Kreisläufe eingeführt werden können. Wo nur natur­verträgliche Dinge hergestellt werden dürfen, sind na­türlich ein Großteil jener Dinge, die bei euch ohne Rücksicht auf die Folgen im Umlauf sind, nicht zu ha­ben. Euer gewohnter Warenkatalog schrumpft also ziemlich zusammen. Immerhin - auch wenn es euch zu glauben schwer fallen mag - es bleibt genug übrig für ein gutes Leben.

Uns dagegen fällt es schwer zu begreifen, wie man Lebensqualität mit der Höhe des Bruttosozialpro­duktes in Zusammenhang bringen kann und sich von Quantität auf Qualität zu schliessen getraut. Gute Atemluft, sauberes Trinkwasser, giftfreie Nahrung, Gesundheit, Zufriedenheit usw., also der Sinngehalt von Wa­ren und der Nutzen für die Menschen, lassen sich mit Zahlen überhaupt nicht erfassen.

 

Im Gegenteil weist ein hoher Waren- und Dienstleistungsumsatz eher auf Defizite hin, die man durch die hohen Leistungen auszugleichen sucht. Was beweist ein hoher Umsatz der pharmazeuti­schen Industrie anderes, als dass es mit der Gesund­heit schlecht bestellt ist? Dasselbe lässt sich aus hohen Umsätzen bei Ärzten und Kliniken ableiten. Aus ho­hem Umsatz im Bereich Straßenbau, Autos u.ä. lässt sich ebenso wenig auf Lebensqualität schließen, denn Au­tos und Straßen benötigt nur, wer an seinem Wohnort kein Auskommen findet, dessen Verwand­ten- und Freundeskreis zersprengt ist und wer sich in seinem Lebensraum unwohl fühlt und seine Freizeit in fremder und vielleicht lebenswerterer Umgebung zu verbringen sucht. Die stinkenden und röhrenden Blechlawinen, die sich durch euere Landschaften quä­len und der naturfressende Straßenbau sind auf keinen Fall ein Hinweis für Lebensqualität. Doch dieser Wahnsinn bläht das Bruttosozialprodukt auf, grad so wie die ungezählten Verkehrsunfälle mit ihren zehntausenden von Toten und Verletzen und dem hohen Sachschaden, was in Wahrheit ja ein großes Unglück ist.

 

Als drittes Beispiel möchte ich noch die Ausgaben für den militärischen Bereich nennen, durch die das Brut­tosozialprodukt steigt. Diese gefährliche Verschwen­dung wird wohl niemand mit Lebensqualität in Ver­bindung bringen.

 

Die Liste der schädlichen Produkte und Leistungen ließe sich lange fortsetzen. Mit ihnen mittelbar ver­bunden ist der Bau von immer neuen Fabriken, Kraft­werken und Atommeilern und die Rohstoff- und Ener­gieverschwendung inklusive Vergiftung der Umwelt. Die Zunahme von Schäden und deren Behebung stolz wie eine Trophäe zu präsentieren, ist eine Torheit. Und wie soll man eine Wirtschaft nennen, die nicht nach Notwendigkeit und Sinn produziert, son­dern von Börsentendenzen und Gewinnerwartungen gesteuert wird?

 

Wir schmunzeln darüber, dass wir in eueren Augen als ar­mes Volk gelten, weil wir weder Autos noch Autobah­nen besitzen, weder Flugzeuge noch Flughäfen, keine Atomanlagen, Supermärkte und keine Vernichtungs­waffen. Doch ihr irrt euch, wir sind nicht arm, nur weil wir auf die Dinge verzichten, die wir nicht benö­tigen. Wir brauchen keine Autos und keine Flugzeuge, weil wir uns dort wohlfühlen, wo wir leben. Die Zu­nahme des Flugverkehrs bei euch ist vermutlich nur Symptom dafür, dass ihr es auf der Erde nicht mehr aushaltet, dass ihr für die irdischen Dinge des Lebens blind geworden seid und euerem Glück nun auch noch über den Wolken hinterher jagt, euch „göttergleich“ über die Erde erhebt. Wie viel Anmaßung liegt schon in dem Umstand, dass ihr dafür allen Lebewesen den damit verbundenen Höllenlärm zumutet und die Zer­störung der schützenden Lufthülle unseres Planeten.

Nein, wir Echraner brauchen keine Flugzeuge. Grad so wenig wie Atommeiler, weil wir unseren Strom de­zentral und umweltfreundlich produzieren und ihn sparsam verwenden. Wir vergeuden ihn weder für die Herstellung überflüssiger Waren noch für die von Ge­rätschaften, die zum Töten bestimmt sind. Letztere braucht nur wer andere einschüchtern will, andere Länder oder die eigene Bevölkerung.

 

Trotzdem fällt es euch schwer im echrani­schen Leben ein nachahmenswertes Modell zu sehen, denn zu radikal haben wir mit euerer materialistischen Lebensweise gebrochen. Euer gewohnter Maßstab muss deswegen versagen, zudem sind euere Sinne durch ständige Reizüberflutung abgestumpft und euer Gefühl für das Wesentliche vom Warenramsch ver­kleistert. Wie sollt ihr echranische Zufriedenheit und Glück erkennen, wenn diese nicht zu wägen und messen sind? Ja, nicht einmal zu zählen, da es in Echra kein Geld gibt, weil wir die Wucherei fürchten und die menschliche Neigung zum Sammeln und Hor­ten.

 

Vom Landbau

Die Bodenkultur gilt in Echra als die bedeutsamste Kultur, ist sie doch Voraussetzung für unser Überle­ben. Seine Nahrung anzubauen und dabei die Fruchtbarkeit der Erde zu mehren, ist neben der För­derung der Kinder der Menschen vornehmste Aufga­be. Gleichzeitig behält der Mensch dadurch die not­wendige Fühlung zur Natur und erlebt das zyklische Werden und Vergehen, sowie das Zusammenspiel von allem Lebenden. Durch den Landbau erntet man - neben der Nahrung - eine Fülle weiterer unschätzbarer und nicht käuflicher Früchte. Die Bewegung im Frei­en und der Sinngehalt der Tätigkeit schenken körper­liche und geistige Gesundheit und Fitness, Einsicht und Erkenntnis über die Zusammenhänge des Lebens, Zufriedenheit, Ausgeglichenheit, herrliche Müdigkeit und Appetit, der auf wunderbare Weise die einfach­sten Speisen schmackhaft macht.

 

Die aus dem Landbau entstehenden Erkenntnisse und Haltungen strahlen in den gesamten Lebensbereich aus.

Weil uns diese positiven Wirkungen des Nahrungsan­baues bewusst sind, gilt es uns auch als folgenschwe­rer Fehler, den Menschen aus diesem ihm ureigensten Bereich zu vertreiben und ihm dafür sinnlose und nervtötende Arbeiten in Fabriken und Büros ausführen zu lassen.

 

Zugleich hat die Mechanisierung und Chemisierung der Landwirtschaft zu einem Rattenschwanz von Fol­geproblemen geführt. Die Menschen wurden der Natur entfremdet, die Familien- und Dorfstrukturen zerris­sen und in der Folge das Land mit Verkehrswegen zerschnitten und die landflüchtigen Menschen in In­dustriezentren zusammengeballt. Aber auch für das Land waren die Folgen der Industrialisierung sehr nachteilig. Gedrängt von einem unerbittlichen Markt, der immer billigere Produkte fordert, wurden die Agrarflächen maschi­nengerecht gestaltet und die vormals klein gegliederte Flur mit ihren artenreichen Rainen und Gehölzen in Agrarsteppen verwandelt, viele Wildtiere und Pflan­zen ausgerottet, das Bodenleben mit Mineraldüngern und Pflanzengiften zerstört, die Krume durch die Be­arbeitung mit schwerem Gerät verdichtet, der Boden­abtrag durch Wind- und Wassererosion gigantisch ge­steigert.

Mit dieser traurigen Entwicklung einher ging der Ver­lust der Wertschätzung des Lebendigen, von der Kenntnis von den Zusammenhängen und vom Zusam­menspiel der Natur. Der fruchtbare Erdboden, von manchen Naturvölkern gleich einer Leben spendenden Mutter verehrt, wur­de zum Produktionsfaktor degradiert. Den Tieren ging es nicht anders. Wildtiere, die wirtschaftliche Interes­sen störten, suchte man auszurotten, was oftmals auch gelang. Geduldet werden nur jene Tiere, deren Verfol­gung nicht lohnt oder denen man einen gewissen Nutzen nicht absprechen kann. Die Tiere, deren Haltung direkten Gewinn verspricht, wurden zu „Nutzvieh“, zu Waren degradiert, deren Körper man möglichst schnell zu vermehren, zu vergrößern und zu töten trachtet. Noch heute werden Schweine, Kälber und Federvieh in höllischer Enge „zur Schlachtreife gebracht.“ Damit sie diese unter den widernatürlichen Haltungsbedingungen überhaupt erleben, werden sie bereits mit dem Futter medikamentiert und ruhig gestellt, damit sie aneinander keine Verletzungen verursachen und vor der Zeit daran eingehen. Millionenfach müssen Tiere auch dem faustischen Erkenntnisstreben der Menschen dienen. Tiere werden sogar gequält und getötet um Waffen, Medikamente und Kosmetika zu erproben.

Wir Echraner empfinden diese bestialische Behandlung der Tiere als eine Schan­de für unsere ganze Art. Welch unglaublicher Hoch­mut spricht aus dem Umstand, die ganze belebte und unbelebte Welt nur als Werkzeug für die Wohlfahrt der menschlichen Art zu verstehen! Natürlich liefert auch hierfür die Religion eine Rechtfertigung dieser Raserei: „Macht euch die Erde untertan!“, soll ein Gott gesagt haben, wie praktisch! Aber die daraus abgelei­tete Vergewaltung der Natur macht ja auch vor den ei­genen Artgenossen nicht halt

 

Uns empört, wenn wir hören, dass in den Industrieländern riesige Nah­rungsmengen vernichtet werden, um die Preise hochzuhalten! Uns empört, wenn wir hören, dass gleichzeitig Futter- und Lebensmittel aus Ländern, in denen Men­schen verhungern, importiert werden, also ein Gutteil der Überproduktion in der Erde der Armen wächst! Uns empört, dass man in Hungerländern auf besten Böden Zuckerrohr anbauen läßt, um daraus Äthanol zum Be­trieb von Autos zu erzeugen, Raps, um mit daraus gewonnen Öl Landmaschinen und Panzer zu betrei­ben, Tabak, um die Menschen zu vergiften und was es an Verrücktheiten mehr gibt! Uns empört, dass man das Mehl getrockneter Tierkadaver an Rinder und Schafe verfüttert, dass Kälbern die Milch vorenthalten wird und man ersatzweise billige Austauschmixturen verfüttert! Und uns empört, dass bis zu zehn Kilo Getreide oder Soja an Tiere verfüttert wird, damit daraus ein Kilo Fleisch wächst!

Nun könntet Ihr sagen, die armen Länder exportierten ihre Agrargüter ja freiwillig, die Zeiten des Kolonia­lismus seien vorbei. Doch dies ist nur dem Schein nach so, denn auch nach dem Abzug der Kolonialher­ren haben sich die alten Abhängigkeiten und Besitz­verhältnisse nur wenig geändert. Statt Nahrung für die Bevölkerung anzubauen und die Großplantagen der Kolonialzeit durch eine Landreform an Kleinbauern zu verteilen, werden auf den ertragreichsten Flächen Waren für den Export erzeugt: Tabak, Kaffee, Tee, Kakao, Baumwolle, Sisal, Erdnüsse, Zuckerrohr, Ba­nanen, Soja usw.

Die Großgrundbesitzer und die Führungsschichten dieser Länder bauen an, was die reichen Nationen auf dem Weltmarkt nachfragen. Jene wiederum unterstüt­zen die Machtverhältnisse in diesen Ländern, um sie weiter ausnutzen zu können. Wenn sie das nicht poli­tisch oder gar militärisch tun, dann doch wirtschaft­lich, indem sie die Waren abnehmen und im Gegen­zug Maschinen- und Luxusgüter liefern, was Abhängigkeiten schafft, die nicht so augenfällig sind wie Kolonialtruppen, aber genauso wirksam. Erst recht, wenn auch noch die Waffen geliefert werden, um diese Unrechtsregime am Leben zu erhalten!

Zudem sind die armen Länder hoch verschuldet, so dass durch den Schuldendienst ihr Zwang zum Export zementiert wird. Und das soll keine Form von Kolo­nialismus sein?

Ich meine, das Beispiel zeigt, dass die Geldwirt­schaft die Menschen versklavt und sich um die natür­lichen Lebensgrundlagen nicht kümmert. Deswegen erscheint uns eine derartige Zivilisation als ein Krebsge­schwür, das überall seine Metastasen setzt und nach und nach alles gesunde Gewebe zerstört, es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Erde daran stirbt. Außer das Geschwür würde be­greifen, dass es damit auch selber stirbt, doch Geschwüre haben keinen Verstand, sie begreifen nichts...

 

Auch wenn euch meine Argumente überzeugen sollte, wird es euch zweifellos schwer fallen in unserem einfachen und arbeitsreichen echranischen Leben ei­nen Ausweg zu sehen. Zu tief sitzen die Vorstellun­gen von der mühseligen und stupiden Landarbeit, die ja, wie man euch immer wieder sagt, durch die Tech­nisierung erst erträglich gemacht worden sei.

Doch das gilt nicht für die echranische Nahrungspro­duktion, die nichts mit der knochenbeugenden Knecht­schaft der Landbevölkerung der Vergangenheit zu tun hat, wo man arbeitsteilig für kargen Lohn fremde Felder bearbeiten musste. Dies hieß wochenlang Mähen, Hacken, Ackern, Ernten, Dreschen usw. Beim Selbstversorgerlandbau arbeitet man nicht als Knecht in fremde Taschen, sondern baut aus freien Stücken an, was man später zu ernten wünscht. Eine abwechslungsreichere und sinn­vollere Tätigkeit gibt es nicht. Kopf und Hände sind gleichermaßen beteiligt. Bevor eine Tätigkeit langweilig wird, lädt schon die nächste ein. Der ganze Mensch ist gefordert, nicht nur ein Teil von ihm.

 

Die Gedankenlosigkeit im Umgang mit der Erde ist vermutlich die Konsequenz aus tierischem Erbe und menschlicher Entartung, denn die Natur hatte es nicht nötig Verantwortungsbereitschaft für einen geographi­schen Ort im Instinkt zu verankern. „Abgrasen, Düngen und Weiterziehen“ war gängiges symbiotisches Prinzip. Doch auch den aus seinem na­türlichen Gleis gesprungenen Menschen konnte die Natur noch viele Jahrtausende verkraften, bis schließlich die Spuren der explosionsartig sich ver­mehrenden Menschen zu tief wurden, die zu­dem ihre Kraft durch Maschinen vervielfachten. Der Mensch wurde zum Wüstenmacher, zum Mörder an ungezählten Arten, zum Vergifter von Wasser und Luft. Sein Verstand reichte zwar aus kurzfristige Ziele zu verfolgen, doch nicht deren unbeabsichtigte, zeit­verzögert einsetzende Folgen zu überschauen, die zu­dem den Sinnen oft nicht zugänglich sind. War ein Landstrich ausgebeutet oder unbewohnbar, zogen die Menschen weiter, die Erde war groß genug.

Heute werden Weiden in den entlegendsten Winkeln der Erde „abgegrast“, ohne dass sie die Verbraucher jemals selber zu Gesicht zu bekommen. So entstehen Wüsten, von denen die eigentlichen Wüstenmacher oft gar nichts ahnen.

Um dieses gedankenlose Treiben zu vermeiden ist es wohl unumgänglich, dass die Menschen mit der Erde, die sie nährt, unmittelbar in Beziehung treten und für sie Verantwortung übernehmen. Wir Echraner sind der Über­zeugung, dass diese Erde nur dann eine Zukunft haben kann, wenn sich für jedes Stück Erde ein Mensch verantwortlich fühlt. Diese Verantwortung wächst bei den meisten Menschen aber wohl nur dann, wenn sie ein Stück Land auf Gedeih und Verderb überantwortet bekommen, von dem sie sich und ihre Nachkommen ernähren müssen, so dass die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit von alleine zur obersten Maxime wird.

 

Jede echranische Familie besitzt ein ausreichend gro­ßes Stück Land zur Selbstversorgung mit Nahrungs­mitteln. Die Größe der Parzellen hängt von der Quali­tät des Bodens, der Zahl der Familienmitglieder, den klimatischen Verhältnissen und dem Verhältnis der privaten und der kommunalen Wirtschaftsflächen ab, die jedes Dorf selbst bestimmt, meist sind es ein bis zwei Hektar. Dieses Land bleibt auf Dauer im Besitz der Eigentümer und ihrer Kinder. Sie dürfen es aber nicht veräußern. Wenn sie keine Erben haben, fällt der Besitz nach ihrem Tode wieder an die Ge­meinde.

Die Fläche reicht aus eine Familie mit Gemüse, Kar­toffeln und Obst zu versorgen und um Winterfutter für ein paar Ziegen oder Milchschafe zu gewinnen, manchmal wird auch ein Pferd oder ein Esel gehalten. Während der Vegetationszeit werden die Tiere tagsüber auf Ge­meinschaftsweiden gehütet, wobei sich die Dorfmit­glieder bei dieser Arbeit reihum abwechseln. Auch der Getreideanbau wird gemeinschaftlich auf kommuna­len Feldern betrieben, wobei die Flächen oft im Wechsel als Weiden dienen, oder durch überlegte Fruchtfolge kaum weitere Düngung nötig macht. Für schwere Feldarbeit und für Transportzwecke hat jedes Dorf auch ein paar Trak­toren und andere Gerätschaften.

Zu jedem Dorf gehört auch ein Brennholzwald mit schnell wachsenden Gehölzen, der gemeinsam nachhaltig bewirt­schaftet wird. Jedes Jahr wird davon ein Abschnitt ge­erntet. Durch die Fähigkeit der Bäume wieder aus den Stümpfen auszutreiben, kann ein Waldstück etwa alle 15 Jahre abgeholzt werden. Auch der Bedarf an Bau­holz kann in einem gemeinschaftlichen Forst gedeckt werden. Daneben gibt es noch kommunale Sand- u. Lehmgruben und – je nach geologischer Lage, auch ein Steinbruch. Neben diesen Wirtschaftsflächen gehört zu jedem Dorf ein Wald, der es umschließt und der nicht bewirtschaftet wird. Er hat Urwaldcharakter und eine üppige Flora und Fauna, Feuchtflächen und Moore.

Von diesen Wäldern aus ziehen sich Feldgehölze, von großen Laubbäumen durchsetzt, netzartig durch die Dorffluren. Gleichsam Adern das Blut, bringen sie nützliche Wildtiere in jeden Garten. Die Feldhecken, deren Schönheit und Artenreichtum man gesehen haben muss, dienen zugleich der Versorgung der Menschen mit Nüssen, Beeren und Kräutern aller Art, zudem sind sie eine ergiebige Weide für die Bienenvölker, die in beinahe jedem Garten stehen. In den Hecken bauen Singvögel ihre Nester, leben Igel, Kröten, Eidechsen und Blindschleichen, die unsere Gärten vor Schäd­lingsplagen bewahren.

 

In der Nähe unserer Wohnhäuser liegen unsere Obst­gärten. Wer Echra im Frühling besucht, sieht unsere Dörfer in einem Blütenmeer versinken. Ebenso herr­lich ist der Herbst, wenn sich die Gehölze unter der süßen Last der Äpfel, Birnen und Zwetschgen fast bis zum Boden biegen. Geeignete Früchte lagern wir in Erdkellern ein, andere werden getrocknet, einge­kocht oder zu Most gepresst.

Da wir keine Nahrungsmittel importieren, gibt es manche Früchte nur zu bestimmten Jahreszeiten. Kein Wunder also, wenn wir im Sommer und Herbst im Obst schwelgen, haben wir uns doch Monate darauf gefreut. Über die zeitweise Verknappung zu lamentie­ren, fällt uns nicht ein, wissen wir doch, dass durch sie der Genuss an den Früchten umso größer wird. Wer täglich alles haben kann, freut sich bekanntlich über gar nichts mehr richtig.

 

Grundsätzlich geben wir der Erde alle pflanzlichen Reste, die Asche der Feuerstellen und alle tierischen und menschlichen Ausscheidungen zurück. Gelegent­lich streuen wir zusätzlich Gesteinsmehl und alle paar Jahre ein wenig Kalk, um die Mineralstoffversorgung der Böden zu sichern.

Diese Düngemaßnahmen und ein geregelter Frucht­wechsel reichen aus, um reichliche Ernten zu sichern. Übermäßige Schädlingsplagen sind dank der Sorge um die Nützlinge, des Fruchtwechsels und durch An­bau von Mischkulturen praktisch unbekannt.

 

Unsere Gemüsegärten sind meist dreigeteilt. Extra ge­düngt wird immer nur das Drittel, auf dem starkzeh­rende Pflanzen wie Kartoffeln, Mais, Kohl, Tomaten oder Kürbisse angebaut werden. Im Folgejahr werden auf derselben Fläche Wurzelgemüse und Zwiebeln ge­zogen. Im dritten Jahr genügt der Nährstoffgehalt im­mer noch den Bohnen, Erbsen und Linsen, die ja als Leguminosen über Wurzelbakterien in der Lage sind, sich den Stickstoff aus der Luft zu holen. Beliebt sind bei uns auch Reihenkulturen, wobei in den Furchen zwischen den Reihen Mulchmasse wie Gras, Laub und andere organische Abfälle ausgebreitet werden, was viele Vorteile bringt. So kommt man beispielsweise auf der Mulchdecke auch bei Regenwetter sauberen Fußes an jede Pflanze heran. In Trockenzeiten bleibt unter dem Mulch die Erde feucht und krümelig, so dass nur selten oder gar nicht bewässert werden muss. Unerwünschte Wildkräuter werden durch die Mulchdecke ebenfalls eingedämmt, so dass bei dieser Anbaumethode das rückenbeugende Jäten keine große Rolle spielt.

Am wichtigsten ist das Mulchen aber für das Bodenle­ben. Schon nach dem halben Sommer ist eine dicke Mulchschicht beinah vollständig zu Erde geworden, die in Geruch und Aussehen an beste Walderde erin­nert.

Wir füttern nicht die Pflanzen - wie man es mit Kunst­dünger macht - sondern das Bodenleben, das sich da­durch prächtig entwickelt und als Gegenleistung die Nutzpflanzen mit bestem Dauerhumus versorgt.

Außer beim Umbruch von Grünland werden in Echra die Böden kaum umgestochen. Wir mulchen die Beete nach der Ernte oder sähen Gründüngerpflanzen, die schnell den Boden bedecken, im Winter abfrieren und zu Nahrung für das Bodenleben werden. Im Frühjahr rechen wir den Rest des Mulches ab und durchziehen die krümelige Erde darunter mit einem Eisenhaken oder einer abgewinkelten Mistgabel.

Durch das Mulchen verringert sich der Zeitaufwand für den Nahrungsanbau beträchtlich. Vielleicht hört man deswegen in Echra so selten jemanden über Gar­tenarbeit jammern...

 

Was frische, ungespritzte und natürlich gedüngte Gar­tenerzeugnisse wert sind, weiß jeder der sie kennt. Kaufhausware ist immer einige Tage alt, wegen Transport und Lagergründen zumeist unreif geerntet, nach den Gesetzen des Marktes erzeugt, was heißt, dass nichts unterlassen wird, was ein oberflächlich und größenmäßig gefälliges Äußeres fördert. Davon, dass dem Erzeuger die Gesundheit eines fernen anonymen Konsumenten zumindest gleichgültig ist, kann ausgegangen werden.

 

Auf Grund der Wertschätzung allen Lebens essen viele Echraner keine Tiere. Alleine ihr absichtliches Töten und das Aufbrechen und Zerteilen ihrer Leichen ist vielen von uns eine schlimme Vorstellung. Ihr habt dieses grausige Tun einer Berufsgruppe übertragen und mogelt euch so um das blutige Geschäft herum. Vermutlich würden auch bei euch viele Menschen kein Fleisch essen, müssten sie die Tiere selber schlachten.

Milch, Butter und Käse werden von den meisten Echra­nern dagegen gerne verzehrt, andere lehnen auch dies aus den verschiedensten Gründen ab, etwa weil die Natur die Milch von Säugetieren kaum für menschli­chen Gebrauch vorgesehen hat, oder weil Milchpro­dukte eine regelmäßige Nachtzucht von Jungtieren be­dingen, die letztlich in der Mehrzahl geschlachtet werden müssen. Hier will ich aber auch meine Erfah­rung einfließen lassen, dass ich schon wiederholt jungfräuliche Ziegen durch Anmelken auf Dauer zur Laktation anregen konnte. In aller Regel genügt aber eine Geburt, um den Milchfluß einige Jahre zu erhal­ten.

 

Über Gesundheit

Unser Körper ist das Ergebnis einer langen Evolution und so geradezu ein Wunder an Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit. Unser Körper verträgt nicht nur ein vernünftiges Maß an Belastung, sondern braucht diese zu seiner Gesun­derhaltung. Es wäre ein verhängnisvoller Fehlschluss, würden sich Menschen in allem schonen, um ja nicht zu verschleißen. Von schädlichen einseitigen Belastun­gen abgesehen gilt, dass uns gerade ständige Übung leistungsstark erhält. Die meisten Krankheiten entste­hen nicht durch den vernünftigen Gebrauch von Kopf und Körper, sondern durch den Nichtgebrauch. Wer rastet, der rostet! Dieses Sprichwort gilt für die Mus­keln, die bekanntlich unter einem Gipsverband schnell an Masse verlieren, ebenso für die Gelenke, deren Schäden in den seltensten Fällen von Abnutzung kom­men. Es ist gültig für die Knochen, die Zähne und auch für die Funktionsfähigkeit des Gehirns. Der Kör­per baut überall dort Masse und Kompetenz ab, wo sie nicht gebraucht wird. Wer sich nicht bewegt und belastet, dessen Kno­chen verlieren Substanz und damit Festigkeit und Här­te. Gleiches gilt für die Zähne, nichts hält sie so ge­sund wie reichliches Beissen und Kauen. Die denatu­rierte Zivilisationskost entmineralisiert sie zudem durch Säuren von außen und innen.

 

Unser Körper kann viel leichter einen Mangel von Speisen verkraften, als ein Zuviel davon, denn er ver­steht es aus dem Vorhandenen noch das Letzte heraus­zuholen. Doch mit Überfluss über längere Zeit, kann er nicht umgehen und erkrankt.

 

Auch wenn intellektuelle Leistungsfähigkeit nur bedingt von der Hirnmasse abhängt, so sollte es doch zu den­ken geben, dass Haustiere um etwa ein Drittel weniger Hirn haben als ihre wildlebenden Artgenossen, weil sie sich um ihr Überleben nicht kümmern müssen. Da sich die Natur keinen überflüssigen Ballast leistet, baut sie die überflüssige Hirnmasse ab. Ob beim bequemen, gedankenfaulen Menschen nun auch ein Masseverlust stattfindet oder nur die Schaltungen und Zugriffsmöglichkeiten „einrosten“ ist unwesentlich. Die Erfahrung lehrt: Wer sein Gehirn nicht dauernd fordert, wird geistig träge. Bei alten Menschen, die in Heime kommen und sich um nichts mehr kümmern müssen, vielleicht auch noch durch ein körperliches Gebrechen in ihren Kontakten eingeschränkt werden, ist schnell ein deutlicher geistiger Verfall festzustellen. Nur wer Körper und Kopf ausreichend beschäftigt, hält sich gesund und leistungsfähig. Man übt seinen Körper auch für den Geist und diesen für den Körper. Und auch Klugheit wächst nicht auf Sattheit, diese macht nur träge, nur die Not macht wendig.

 

Aber dass Gesundheit das Ergebnis körperlichen, see­lischen und sozialen Wohlbefindens ist, weiß man nicht nur in Echra. Wir bemühen uns aber sehr die Wechselwirkungen von Körper, Seele, Geist und Lebensverhältnissen zu erkennen, denn letztere schlagen sich körperlich nieder. Der gesunde oder kranke Mensch wirkt zudem unterschiedlich auf das soziale Umfeld und kann dort Gleichgewicht oder Störung erzeugen. Die Welt wirkt auf uns und wir wirken auf sie. Unsere Gedanken und Gefühle, erst recht unsere Worte, können gesund oder krank machen. Worte können Medizin sein, aber auch die weitreichendsten Waffen, die es gibt!

 

Weil dies so ist, sind viele euerer Krankheiten eine Folge euerer kranken Lebens und Arbeitsbedingungen. Selbst wenn durch Verbesserung von Hygiene und Ernährung, durch den Einsatz von bakteri­entötenden und entzündungshemmenden Arzneien und die technischen Verbesserungen von Diagnose- und Operationstechniken euere durchschnittliche Le­benserwartung gestiegen ist, wird doch niemand in diesem Zusammenhang ernsthaft von Gesundheit sprechen wollen, denn die Menschen sind kränker denn je. Im übrigen ist die höhere Lebenserwartung vor allem eine Folge der Senkung der Kindersterblich­keit. Auch wenn viele der alten Seuchen besiegt zu sein scheinen - die moderne Zivilisation hat für jeden Hydrakopf, den sie beseitigte, eine Vielzahl neuer er­zeugt. Ganze Wirtschaftszweige leben von den Krank­heiten der Menschen und es wäre eine wirtschaftliche Katastrophe könnten euere Ärzte statt der Krankheits­symptome die Ursachen der Leiden bekämpfen!

 

Von der Ernährung

Wer sein Haus mit morschen Balken und schlechtem Mörtel baut, wird damit auf Dauer nicht froh werden. Euerem Automobil würdet ihr niemals falschen Kraft­stoff tanken und dem Motor ungeeignetes Öl zumuten. Doch auch unser Körper braucht für seinen Aufbau und Unterhalt ebenfalls die richtigen Stoffe, auch wenn er ein extrem belastbarer Organismus ist, der lange Zeit Mangelsituationen ausgleichen kann.

Viele Krankheiten werden durch falsche Ernährung verursacht, bei anderen ist sie beteiligt. Der Beweis dafür: mit dem Vordringen der Ernährungsge­wohnheiten der Industrieländer in andere Kulturkreise, haben sich dort auch deren Krankheiten verbreitet, oft waren sie zuvor gänzlich unbekannt.

Die Hauptursache für viele Gebrechen glauben wir in der gedankenlosen Verarbeitung der Nahrung ent­deckt zu haben. Je mehr Nahrung verändert wird, um­so weniger entspricht sie derjenigen, die unsere Art über Jahrmillionen überleben und gedeihen ließ. Das Nahrungsangebot in den Industrieländern zeichnet sich vor allem durch die Notwendigkeit der Konser­vierung aus, denn Nahrung mußte eine haltbare Han­delsware werden, da Erzeuger und Verbraucher weit auseinander liegen. So wurden immer neue Techniken entwickelt sie lagerfähig zu machen, wovon Trocknen und Gefrieren die schonendsten sind. Doch was heute alles in Dosen, Tuben, Beuteln, Schachteln und Fla­schen in den Verkaufsregalen der Supermärkte steht, hat mit Nahrung, wie sie uns angemessen wäre, kaum mehr etwas zu tun: sterilisiert, homogenisiert, ausge­mahlen, vorgefertigt und mit zahllosen lebensfeindli­chen Zutaten geschönt und haltbar gemacht. Von die­sem wertlosem, ja oft schädlichem Zeug müssen die Menschen leben. Besser leben davon schon eine Viel­zahl von Interessengruppen - angefangen bei den Pro­duzenten, den Verarbeitern und ihrer Zulieferindu­strie, die chemische Industrie, der Lebensmittelhandel, die Transporteure und ihre Ausstatter, die Energie­wirtschaft - schließlich diejenigen, die an den Folgen der Fehlernährung verdienen: die Pillendreher, Sym­ptomkurierer, Hersteller von medizinischem Gerät und Prothesen, die Klinikbauer, die Versicherungen und ein Rattenschwanz von Bürokraten, die den gan­zen Irrsinn verwalten.

 

Diese Zustände sind uns ein abschreckendes Beispiel. Was ihr euch im Ernährungsbereich so zumutet, sind irrwitzige Massen versuche direkt an Menschen.

 

Dabei ist es so einfach, sich gesund zu ernähren. Die wichtigste Regel ist, die Nahrung möglichst im Natur­zustand zu verzehren, denn nur dann besitzt sie ihren optimalen Wert. Auch hier kann man viel von den wildlebenden Tieren lernen, denn diese treffen in­stinktiv die richtige Wahl. Da keines von ihnen Nah­rung mit Feuer behandelt, sollte es der Mensch auch nicht tun, oder wenigstens nur mit einem Teil seiner Nahrung, denn Kochen und Braten sind menschliche Erfindungen. Obwohl jeder weiß, dass Hitze Lebendi­ges tötet und der Gebrauch des Feuers entwicklungs­geschichtlich betrachtet eine vergleichsweise junge Fertigkeit ist, wird die Nahrung mit der größten Selbstverständlichkeit dem Feuer ausgesetzt. Doch mit dem Abtöten der Nahrung verändert sich auch ihre in­nere Struktur und damit ihr Gehalt. Schon vor langer Zeit haben Forscher vor dem Erhitzen gewarnt und dass ausschließlich mit erhitzter Nahrung gefütterte Tiere erkranken, unfruchtbar werden und schließlich sterben. Tiere, die rohe Nahrung bekommen, gedeihen dagegen prächtig. Wir Echraner haben daraus gelernt. Etwa die Hälfte unserer täglichen Nahrung besteht aus Rohkost, vor allem aus Obst, Nüssen, Blatt- und Wurzelgemüse und gekeimten Getreide und anderen Samen und aus Milchprodukten und Eiern. Der erhitzte Anteil besteht aus Getreide, Kartoffeln, Hülsenfrüchten, gedünstetem Gemüse, aus Brot, und Gebäck. Wir trinken Wasser, frischen oder vergorenen Fruchtsaft, rohe Milch, auch Bier und Wein. Auch Brühgetränke wie Kräutertee oder Früchtekaffee sind recht beliebt. Gesüsst wird, wenn überhaupt, mit Honig. Reiner Zucker wird wegen seiner Gefährlichkeit in Echra nicht hergestellt, auch mit reinen Fetten gehen wir eher sparsam um.

Ich möchte mich hier nicht in Einzelheiten verlieren, die Forscher und Lebensreformer schon seit Jahrzehn­ten predigen. Nur soviel: Hitze zerstört die Vitalstoffe, verändert das Eiweiß, laugt basisch wirkende Mineral­stoffe aus, so dass die denaturierte Nahrung schließ­lich den Körper übersäuert und die Körpersäfte mit der Zeit die Alkalireserven in den Knochen und Zäh­nen plündern, was Entmineralisierung bedeutet und Zahnverfall, Osteoporose und Gelenkschäden. Zuviel Eiweiß und Fett lagert sich in den Blutgefässen ab, verhärtet und verengt vor allem die feinen Arte­riolen und führt in der Folge zu Herz-Kreislauferkran­kungen usw. Wichtig ist die Erkenntnis, dass es beim Essen nicht auf die Menge ankommt, sondern auf die Qualität, also auf die Frische und den Vitalstoffgehalt der Nahrung. Die Energieausbeute, etwa aus einer leichten pflanzlichen Rohkost, ist bedeutend größer, als etwa aus einem schweren Fleischgericht, für das der Körper oft mehr Leistung für die Verdauung ein­setzen muss, als er herausholt. Eine leichte frische pflanzliche Speise dagegen belastet den Körper dage­gen nicht und bringt ihm, was er benötigt. Aber dies kann jeder leicht an sich selber ausprobieren und nicht selten verbessern sich hartnäckige Leiden, manchmal verschwinden sie sogar völlig.

 

Unterstreichen will ich noch, dass echranische Ernäh­rung nichts mit Entbehrung oder Askese zu tun hat. Essen ist uns sehr wichtig und ich kenne keinen Echraner, der sich nicht als Feinschmecker fühlt. Bei rohem Obst und Gemüse darf der Mensch nach Her­zenslust schlemmen, ohne auf die Menge achten zu müssen. Sollte dies nicht als Beweis dafür ausreichen, was die richtige Nahrung für uns Menschen ist?

 

Von der Kleidung

Da wir in einer gemäßigten Klimazone mit warmen Sommern und kalten, schneereichen Wintern leben, muss unsere Kleidung diesem Wechsel entsprechen. Eine Kleidermode, wie ihr sie kennt, gibt es in Echra nicht, weil niemand von dem dauernden Wechsel von Rocklängen, Kleiderformen und Farben einen materi­ellen Vorteil ziehen kann. Unsere Kleidung ist zu al­lererst zweckmäßig, vielleicht gerade dadurch auch ästhetisch ansprechend. Extreme Formen sind die Ausnahme, denn zu enge oder zu weite Kleidung be­hindert ihren Träger oder degradiert ihn zum Kleider­ständer. Offenbar bilden sich mit der Zeit von alleine optimale Formen heraus, mit einer gewissen Toleranz nach den verschiedenen Seiten.

Dennoch gibt es in Echra keine langweilige Einheits­kleidung, denn alles Uniformierte ist uns ein Greuel. Ja, ich behaupte sogar, dass euere Mode alleine durch die Massenfertigung viel uniformer ist, als die echra­nische Bekleidung, die sich zumeist jeder selber anfer­tigt. So trägt jeder quasi seine eigene Mode, was zu ei­ner großen Vielfalt an Formen und Farben führt. Die benötigten Tuche beziehen wir übrigens entweder von unseren Zeitdörfern oder wir weben sie uns selber.

 

Wir setzen – nebenbei bemerkt – unsere Haut auch gerne der frischen Luft und Sonnenlicht aus. Letzteres meiden wir aber zu Zeiten, wenn sie am höchsten steht. Wir arbeiten lieber in den Vormittags- oder den späten Nachmittagsstunden im Freien. Die Mittagszeit verbrin­gen wir gerne faulenzend, lesend oder musizierend im Schatten der Bäume.

 

Dass sich viele von euch - scheinbar als Ausgleich für das ganzjährige Eingesperrtsein in Büros und Fabri­ken - während der Urlaubswochen in der Sonne regel­recht grillen, ist uns wieder ein Beweis für die Unna­türlichkeit eurer Denkweise, weil doch selbst der ein­fältigste Hund in der Hitze den Schatten aufsucht.

 

Was euch verweichlichte Stallmenschen frösteln lässt, wird von  abgehärteten Echranern oft noch als ange­nehm empfunden, denn die menschliche Haut und das isolierende Fettgewebe darunter passen sich der jewei­ligen Lebensweise an. Wir glauben, dass dieses dau­ernde Gefäßtraining unserer Haut auch unserer Ge­sundheit förderlich ist. In der kalten Jahreszeit tragen aber auch wir wärmende Kleidung aus Pflanzenfasern oder Wolle.

 

Vom Wohnen

Unsere Architektur ist ähnlich individuell und vielfäl­tig wie unsere Kleidung. In Echra gehört es zu den Grundrechten jedes Menschen,  dass er sein Wohn­haus - das ja seine dritte Haut ist -  nach eigenem Vor­stellungen bauen darf, ohne von einer Behörde gegän­gelt zu werden.

Wer bei uns großartige Wohnvillen erwartet, wird ent­täuscht sein, denn wir bauen keine Häuser zu Prestigezwecken. Unsere Häuser sollen uns nur Schutz bieten vor der Glut der Sommersonne, vor Niederschlägen und vor der Kälte, sie sollen uns geschützte Werkstätte sein und war­mes Schlafnest. Da sich unser Leben überwiegend im Freien abspielt, reichen uns wenige Räume aus und unser sozia­les Leben spielt sich sowieso meist in den dörflichen Gemeinschaftsräumen ab.

Auch wenn sich unsere Wohnhäuser in Form und Ausgestaltung  unterscheiden, so verbindet sie doch die Verwendung des aus der Umgebung stammenden natürlichen Baumaterials, was sie alleine schon in die Landschaft integriert. Die Außenwände sind meist aus Natursteinen, gestampftem Lehm oder Holz. Die Dä­cher sind mit Stroh oder Schindeln gedeckt, recht be­liebt sind auch Gras oder Moosdächer. Für Zwischen­decke und Dach verwenden wir meist Rundhölzer, die stabil sind und leicht beschafft wer­den können, ohne erst eine kraftfressende Säge  durchlaufen zu müssen. Da uns rechter Winkel und gerade Linie wenig gelten, verwenden wir zum Bauen auch gerne krumm gewachsene Laubhölzer, worin sich auch unser Streben nach Funktionalität und möglichst organischen Formen ausdrückt.

Die Fenster der Wohnräume richten wir zur Sonne hin aus, um möglichst viel davon während des Win­terhalbjahres einzufangen. An der Nordseite schließt dagegen meist Stall und Heuschober an, was sich ebenfalls günstig auf die Wärmeversorgung auswirkt. Unter den Heuschober liegen zumeist gemauerte Kel­ler mit gewachsenem Erdboden, in denen Gemüse und Obst frostfrei gelagert werden können. Das Wur­zelgemüse bleibt darin frisch bis zur nächsten Ernte.

 

Sehr verbreitet sind bei uns an der Sonnenseite über­dachte Terrassen, etwa wie man sie von amerikani­schen Farmhäusern kennt. Das Dach schützt die da­hinter liegende Stube vor der direkten Sommersonne, während die tiefstehende Wintersonne ungehindert einstrahlen kann. Vom Frühjahr bis zum Herbst er­setzt die Terrasse die Stube, denn wir leben gerne im Freien.

 

Die größere Gemeinschaftlichkeit in den Kooperativen drückt sich auch architektonisch aus, die Häuser rei­hen sich dort aneinander und umschließen einen ge­meinsamen Park, der den Bewohnern als sozialer Raum dient. An den Außenseiten liegen die Obst- und Gemüsegärten. An das Wohngeviert schließt meist ein zweiter Hof mit den Gemeinschafts- und Wirtschafts­gebäuden an. In den Zeitdörfern gibt es meist noch ei­nen dritten Hof mit den speziellen Produktionsanlagen.

 

An Gemeinschaftsgebäuden gibt es in jeder echrani­schen Ansiedlung einen Saal für Versammlungen, für Tanz und Unterhaltung, für kulturelle Veranstaltun­gen und auch für Spiel und Sport. Die Seele jeden Dorfes ist wohl seine Bibliothek. Sie wird als Hort menschlichen Geistes von allen gehütet und rege be­sucht.

Daneben gibt es noch Räume für Gruppenaktivitäten und einige, die als Schulungsräume dienen. Auch das Amtszimmer des Koordinators ist in dem Gemein­schaftskomplex untergebracht.

 

Besuchern fällt besonders das Fehlen jeglicher Reprä­sentationsbauten ins Auge, da sie gewohnt sind an die­sen die Bedeutung einer Kultur zu messen. Doch in Echra gibt es keine Paläste, alles ist bescheiden und auf die Funktion beschränkt, darin drückt sich gerade unsere Kultur aus.

Wer aber näher hinsieht wird erkennen, dass die Gebäude einmalig in Form und Ausführung sind, stabil und gediegen gebaut und in manchen Details überraschen. Alle verwendeten  Baumaterialien sind massiv und echt, nichts gibt vor mehr zu sein als es ist. Nichts ist furniert und aufge­blasen, es gibt keine Effekthascherei.

 

Wir bemühen uns die Gebäude immer auf weniger fruchtbarem Land zu errichten. Der jeweils abgetragene Humus wird in der Nähe zu einem fruchtbaren Hügel geformt, um damit bei späterem Abriss eines Hauses die entstande­ne Wunde wieder schließen zu können.

Auch wenn es bei uns keine behördliche Bevormun­dung beim Bau von Wohnhäusern gibt, so gilt doch der Grundsatz, dass kein Nachbar durch einen Bau ge­schädigt werden darf und bei einem späteren Abriß keine schädlichen Stoffe zurückbleiben dürfen. Auch aus diesem Grund werden nur natürliche Baustoffe verwendet, die entweder wieder zu Erde werden oder wie Steine und Glas wiederverwendet werden können. In einem Land der Barfußläufer wird mit Glas übrigens sehr sorgsam umgegangen und alle Scherben gesammelt und wieder eingeschmolzen.

 

Von echranischer Technik

Wie schon mehrfach angedeutet, werden in Echra nur nützliche Dinge hergestellt, die weder in Herstel­lung noch Gebrauch die Biosphäre irreversibel schädi­gen. Rohstoffe, die nicht wieder nachwachsen, müssen so sparsam wie möglich verwendet werden, damit auch zukünftige Generationen noch darauf zurück­greifen können. Alle geeigneten Materialien werden nach ihrem Gebrauch gesammelt und wiederverwertet, z. B. Metalle, Glas und Papier.

Wir Echraner glauben, dass viel technisches Gerät un­nütz ist und Menschen und Natur mehr schaden als nützen. Oder gibt es eine Maschine, die uneinge­schränkt gelobt werden kann? Jede, auch die friedlich­ste und auf den ersten Blick nützlichste, hat einen Rat­tenschwanz unbeabsichtigter, schädlicher Nebenwir­kungen, oft in  Lebensbereichen, die der Mensch in seiner Kurzsichtigkeit oft lange Zeit gar nicht be­merkt, denn Menschen schlussfolgern linear, Maschinen wirken exponentiell. Sie greifen nicht nur in der gewünschten Weise für den gewünschten Zweck in die Welt und ihre Abläufe ein, sie zerstören schon, bevor sie überhaupt den beabsichtigten Nutzen erzeugen und selbst der ist, wie die Erfahrung zeigt, auf lange Sicht - zumal, wenn man den Wert für das Leben insgesamt betrachtet - unnütz oder schädlich. Die Maschinen, ersonnen die Menschen von Mühsal zu befreien, haben nicht größere Freiheit, sondern mehr Abhängigkeit gemacht.

 

Mir ist bekannt, dass in euerer Zivilisation geglaubt wird, nur neue, intelligentere Technik könne die Wun­den heilen, die durch die alte zerstörerische Technik gerissen worden sind. Wir Echraner sind nicht dieser Ansicht, denn die Wunden der Natur kann nur die Na­tur selber heilen. Was nicht bedeutet, dass man euere Atommeiler und euere Massenvernichtungswaffen einfach sich selbst überlassen darf und warten, dass Gras darüber wächst. Doch wer hofft, dass jene klüge­re Technik, die man als Ersatz ersinnt, nicht auf eine irgendeine Art neuen Schaden erzeugt, erst recht in einer Welt, in der das Geld regiert, ist wohl ein Träumer.

Die Technik macht auch vor der Seele nicht halt, wer mit Maschinen lebt, bekommt ein Maschinenherz, sagt ei­ne uralte östliche Weisheit.

 

Damit kein falscher Eindruck entsteht - auch bei uns in Echra gibt es technisches Gerät. Wir haben Koope­rativen die Metalle erzeugen und verarbeiten, Glas schmelzen, Werkzeuge, Getreidemühlen, Fahrräder, Solaranlagen usw. herstellen. Andere produzieren Pa­pier, Tuche, Farben, Musikinstrumente, Bücher und andere notwendige Dinge. Doch im Unterschied zu euerer Zivilisation stellen wir nur soviel her, wie be­nötigt wird, die Produktion ist uns kein Selbstzweck. Da wir sehr auf die Langlebigkeit der Güter achten und pfleglich damit umgehen, wird auch nur selten Ersatz fällig, denn jede Art von Verschwendung ist uns zuwider. Wir sagen, der Mensch darf nur zwei Dinge verschwenden und dies maßlos: Liebe und Phantasie!

 

Fragen zum echranischen Leben

 

Frage: „Noch ein Utopia. Gibt es nicht schon genug?“

 

Antwort: „Oskar Wilde schrieb, es lohne sich nicht einen Atlas aufzuschlagen, in dem Utopia nicht eingezeichnet sei.“

 

Echra ist ein Utopia, aber ein sehr bescheidenes, was es von anderen Entwürfen schon einmal grundlegend unterscheidet: Echra ist kein Schlaraffenland, sondern eine kleinbäuerliche Selbstversorgergesellschaft, in der viel Schweiß fließt und die dicht an der Grenze zur Ärmlichkeit angesiedelt ist, für viele also eine schlimme Vorstellung. Echra stößt Linke, Liberale und Konservative gleichermaßen vor den Kopf. Die einen, weil sie von einem Luxusleben für alle träumen, die anderen, weil sie von einem Luxusleben für wenige träumen und die Rechten sowieso, weil sie mit echranischer Freisinnigkeit, mit Religionslosigkeit und der gleichzeitig urchristlichen Verteufelung des Mammons, sich überhaupt nicht anfreunden können.

Prächtige Voraussetzungen also, von allen Lagern verlacht zu werden...

 

 

Frage: „Gibt es in Echra Askese?“

 

Antwort: „ Grundsätzlich ist uns nichts tabu, was das Leben lebenswerter macht, was die Lust an etwas erhöht. Wenn man mit Fasten seinem Körper etwas Gutes tun kann, sich selber beherrschen lernt oder die Freude am Essen, an einfachen Speisen, steigern kann, dann ist Fasten eine gute Sache. Quält sich jemand damit, um einem imaginären Wesen gefallen zu wollen oder sich selbst oder seine Umgebung zu bestrafen, riskiert er damit gar Leben und Gesundheit, dann lehnen wir das ab.

 

Für Meditationen, Yoga, Sport usw. gilt ähnliches. Sie sind wunderbare Mittel das Leben durch Konzentrati­on, Kontemplation, Beherrschung von Körper und Geist reicher zu machen. Doch gibt es auch hier eine Grenze, wo ein Zuviel oder eine zu große Verbissen­heit Schaden verursacht. So ist Sport beispielsweise ei­ne herrliche Beschäftigung, die Körper und Geist ge­sund erhält, Kraft, Ausdauer und Geschicklichkeit för­dert und durch gemeinsames Spiel die Beziehungen zwischen den Menschen verbessert. Einen verbissenen Wettbewerb daraus zu machen und nur nach immer höherer Leistung und Sieg über andere zu streben, wäre aber wenig echranisch.

Auch wer sich dem Leben durch ein Übermaß von me­ditativer Versenkung entfremdet, handelt unvernünf­tig, denn Meditation und Yoga sollten immer Werk­zeug zum Leben sein und nicht das Leben beherr­schen.

 

Frage: „Echraner gehören keiner Kirche an, ja, sie glauben wohl nicht einmal an Gott. Kann es aber ohne Religion überhaupt eine Moral geben, ein Gut und Bö­se geben? Führt ein Leben ohne Gott nicht zwangsläu­fig zu einem Dschungelsystem, in dem sich der Stär­kere durchsetzt?“

 

Antwort: „Kirche sind Institutionen die vorgeben zwi­schen den Menschen und Gott zu stehen. Sie behaup­ten gerne, dass es ohne ihre Lehre den Menschen an Orientierung fehlen würde. Ihre Dogmen und das Pre­digen göttlicher Gebote mache die Heiden sittlicher, nicht zuletzt durch die Androhung eines jenseitigen Gerichtes. Wer sich die aber die Welt betrachtet sieht, dass zweitausend Jahre Christentum die Menschen nicht besser gemacht haben, im Gegenteil! In keinen anderen Kulturkreisen gibt es soviel Gegeneinander und Machtgier. Die Amtskirche hat die ursprüngliche Lehre mißbraucht und sich zum Werkzeug der wirt­schaftlich Mächtigen gemacht. Dieser unselige Pakt zieht eine blutige Spur der Verwüstung durch die Jahrhunderte, ungezählte Kulturen wurden zerschla­gen, Andersdenkende als Ketzer verbrannt, die Erde im biblischen Auftrag „untertan gemacht“. Der gegen­wärtige Zustand der Erde sollte eigentlich als Antwort ausreichen.

 

Ob Echraner an Gott oder Götter glauben, das geht nur sie selber etwas an. Unsere Toleranz in diesen Dingen ist zweifellos nicht ungefährlich, denn eigentlich darf man Religionen gegenüber nicht tolerant sein, denn sie sind es auch nicht, wie die Geschichte von Juden- und Christentum und vom Islam zeigen. Sobald ein Mensch einer Religion verfällt, ist er ihren Dogmen verpflichtet und für eine aufgeklärte Gemeinschaft verloren. Toleranz, Freiheit und Religion schließen sich zwangsläufig aus, auch wenn etwa das Christentum gerne mit diesen Begriffen hausieren geht, doch jede Freiheit und jede Toleranz wurde der Kirche erst in blutigen Kämpfen abgetrotzt.

 

Da wir Echraner uns aber bemühen, aus allem was Menschen gedacht und geschaffen haben, das Gute und Brauchbare her­auszuklauben, so gilt das auch für die Religionen. Und so finden sich etwa christliche Grundein­sichten auch in der echranischen Ethik wieder. Doch wären sie dort auch gelandet, wenn es das Christentum nicht gäbe, denn seine Ethik ist ja auch nur aus älteren Philosophien und Religionen zusammengeklaubt. Bis auf die Feindesliebe. Doch nichts findet sich in der Geschichte der Christenheit weniger als sie....

 

Frage: Eine arbeitsteilige Gesellschaft war und ist die Bedingung für jeden Fortschritt. Mit der weitgehenden Aufkündigung der Arbeitsteilung sind die Echraner auf den Entwicklungsstand der Vorzeit zurückgekehrt, das kann doch wohl nur ein Witz sein!

 

Antwort: Keine andere Lebensweise fordert und för­dert den Menschen mehr, als wenn er in möglichst vielen Lebensbereichen zu Hause ist und sich seine Bedürfnisse selbst zu befriedigen lernt, nichts schenkt größere Befriedigung und Unabhängigkeit.

Der Philosoph Karl Marx glaubte alleine die Verge­sellschaftung der Produktionsmittel würde die Ent­fremdung aufheben und die Menschen glücklich ma­chen, doch in den großen sozialistischen Massenexpe­rimenten wurde das Gegenteil bewiesen. Der Mensch braucht zu seinem Glück die Möglichkeit, es sich sel­ber zu schmieden. Die Abschaffung des Eigentums war ein großer Irrtum, der Mensch braucht zu seinem Wohlbefinden das für ihn Nötige und das größte Glück ist es für ihn, es sich selber eigenverantwortlich schaffen zu können.

 

Frage: Ein kollektives Vernünftigwerden ist bei uns verführbaren Menschen doch absolut unwahrschein­lich, da wachsen uns doch eher Flügel oder Schwimm­häute! Was Sie den Echranern an Qualitäten andichten, haben bislang nur einzelne Weise geschafft und auch diese nur zeitweise, in aller Regel nach dem Beschreiten ernüchternder Irrwege. Menschen werden nur durch Schaden klug, und auch diese Klugheit ist zumeist nicht von Dauer. Echra ist daher nicht möglich und - von der Naturverträglichkeit abgesehen - auch nicht wünschenswert. Ist es nicht die Be­schränktheit der Mitmenschen, die uns klug macht? Ihre zerstörerische Gier, die uns bescheiden macht? Ihr Unglück, das unser Nichtunglück als Glück er­scheinen lässt? Man stelle sich das nur einmal vor: ein ganzes Land voller Individualisten, Menschenfreunde, Naturliebhaber, Lebenskünstler! Grauenhaft! Wollen Sie dazu noch etwas anmerken?

 

Antwort: Nein.

 

Nachwort

 

Seit ich mein Utopia vor zwanzig Jahren gedanklich zu entwickeln begann, hat sich die Welt weiter zum Negativen hin verändert. Was früher Kolonialismus und Imperialismus hieß, heißt nun schönrednerisch Globalisierung. Nicht die entlegendsten Ecken der Erde sind heute mehr vor der industrieellen Barbarei sicher. Wie eine Krankheit befällt der westliche Materialismus alle Kulturen und zerstört immer mehr die gewachsenen Eigenheiten der Völker. Doch auch die Gegenbewegung gegen diese schleichende kulturelle Vergewaltigung in Form von religiösem Fanatismus und Terror ist alles andere als ein Fortschritt für diese Erde.

 

Trotz einer Erdbevölkerung von mittlerweile 6 Milliarden Menschen wird weiterhin die Automatisierung vorangetrieben, immer mehr wird mit immer weniger Menschen produziert, selbst in den ärmsten Ländern der Erde. Die Arbeitslosigkeit steigt weltweit, ebenso die Landflucht. Der Reichtum hat sich in noch weniger Händen konzentriert und die Armut nimmt zu, auch in den reichen Ländern.

 

Das Artensterben in Flora und Fauna geht ungebremst weiter. Trotzdem wir mittlerweile schon einen furchtbaren atomaren Gau erlebt haben, werden immer noch Atommeiler gebaut, obwohl noch immer keiner weiß, wie der strahlende Abfall entsorgt werden könnte. Naturkatastrophen haben an Häufigkeit und Heftigkeit zugenommen, Klimaveränderungen sind Realität geworden.   

 

Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten ist auch ein Stück Hoffnung auf eine gerechtere Welt verloren gegangen. Durch das Wegfallen dieser Konkurrenz hat es der Kapitalismus auch nicht mehr nötig sozial zu tun, immer häufiger zeigt er wieder offen seine Raubtierfratze. Und doch sind die sozialistischen Experimente vor allem an ihren inneren Widersprüchen und ihren kleinkarierten und/ oder unmenschlichen Führern gescheitert. War die Hoffnung vieler denkender Menschen Anfang der achtziger Jahre danach einmal grün, so läuft einem heute die Gänsehaut, wenn man sieht, was daraus geworden ist. Nichts hat dieses Gedankengut mehr neutralisiert, als es zu Partei- und Regierungspolitik zu machen.  

 

Als gute Nachricht kann man das Ausbleiben des atomaren Overkills werten, doch unverändert tickt die Zeitbombe des nuklearen Schrottes und noch immer stehen Unmengen von Atomsprengköpfen startbereit in ihren Silos.

 

Diese unvollständige Schilderung möge belegen, dass die Welt eine Echranisierung weiter dringend nötig hat… Doch die gescheiterten Experimente der bisherigen Weltverbesserer machen wenig Hoffnung, denn die Bestrebung ist das eine, die Wirklichkeit eine andere und nicht selten werden die best gemeintesten Vorgaben zu Horrorszenarien.

 

Bleibt also nur, die Welt treiben zu lassen und zu hoffen, dass sich Schlechtes immer wieder von alleine zum Guten wandelt und nicht zuviel gut gemeintes zum Schlechten. Sich selber sollte man aber nicht treiben lassen und sich jeden Tag aufs Neue um Lebenskunst bemühen und prüfen, welche Teile des Alltags sich echranisieren lassen…